Rammstein II: Wissen, was man tut

Der Skandal um Rammstein-Sänger Till Lindemann zieht immer weitere Kreise. Mittlerweile hat der Verlag Kiepenheuer & Witsch, in dem ein Gedichtband Lindemanns erschienen war, die Zusammenarbeit mit dem Musiker beendet. Grund war ein pornographisches Video zu dem Lied “Till the end” aus dem Jahr 2020, in dem Lindemann extrem harten Sex mit einer Frau hat. Meines Wissens handelt es sich bei der Frau um eine professionelle und bezahlte Pornodarstellerin und nicht um einen Fan oder sonst eine Privatperson, es dürfte also davon auszugehen sein, dass der Ablauf und Inhalt des Videos vorher abgeklärt wurde, aber das Video wirkt dennoch wie eine düstere Vorausschau dessen, was nun mehr und mehr ans Tageslicht kommt. Die Grünen haben außerdem beantragt, dass es bei künftigen Rammstein-Konzerten keine Row Zero mehr geben soll, aus der heraus weibliche Fans ohne ihr Wissen für Sex mit Lindemann gecastet werden.

Doch obwohl immer mehr junge Frauen mit in sich schlüssigen, einander in vielen Details entsprechenden Berichten an die Öffentlichkeit gehen und die Anschuldigungen dadurch an Glaubwürdigkeit und Gewicht gewinnen, tobt in den sozialen Medien immer noch der Krieg, der vielen Opfern sexueller Gewalt zusätzlich zu ihrer traumatischen Erfahrung aufgebürdet wird. Sie werden als Lügnerinnen diffamiert, als aufmerksamkeitsgeil, als unglaubwürdig – und immer wieder als “selbst schuld”. Wer auf die Party eines Rockstars gehe, wisse doch, dass es da um Sex und Drugs gehe. Die Frauen seien doch nicht nur Opfer, sondern erwachsene Menschen mit einer Eigenverantwortung. Eigenverantwortung. Dieses Wort habe ich in den letzten Tagen oft gelesen. Zeit, sich diese – oft von Männern vorgetragene – Forderung genauer anzuschauen.

Gleiche Eigenverantwortung für alle

Eigenverantwortung meint hier vor allem, für sein eigenes (Fehl-)Verhalten geradezustehen. Nicht nur nach außen zu schauen und zu zeigen, sondern auch nach innen. Sich zu fragen, was am eigenen Verhalten zu einer Situation hingeführt hat. Wer mich schon etwas länger kennt, weiß, dass ich eine große Verfechterin der Eigenverantwortung bin. Eigenverantwortung ist für mich ein Zeichen emotionaler Reife, weil ihr zwingend die Erkenntnis vorausgeht, dass problematische Situationen oft aus einer Dynamik heraus entstehen, an der man durchaus auch selbst beteiligt sein kann. Doch in dem Skandal um Till Lindemann (und vermutlich in vielen anderen Skandalen um sexuelles Fehlverhalten mächtiger und/oder berühmter Männer) fällt auf, dass nur von Frauen diese Eigenverantwortung verlangt wird.

Aber Eigenverantwortung ist keine Einbahnstraße. Von den Opfern sexueller Gewalt Eigenverantwortung zu erwarten, von dem oder den Tätern aber nicht, ist das Gegenteil von emotionaler Reife. Entweder also, wir erwarten von jungen, weiblichen Musik-Fans, dass sie “eigenverantwortlich” potentiell gefährliche Situationen meiden (siehe hierzu auch “Du sollst nicht allein durch den Park gehen”), dann müssen wir das aber auch von einem Sänger Till Lindemann verlangen. Dass er Eigenverantwortung zeigt und sein Verhalten kritisch hinterfragt. Oder wir sagen “Männer sind nun einmal so (also gefährlich) und daher von jeder Eigenverantwortung zu befreien”, dann müssen wir aber auch wertfrei akzeptieren, dass junge, weibliche Fans nicht mit dem Schlimmsten rechnen oder dass sie “star-struck” sind, wenn sie auf eine Party mit ihrem Idol Till Lindemann eingeladen werden.

Von Frauen mehr Reife zu erwarten als von Männern, hat ja in der rape culture unserer patriarchal geprägten Zivilisation eine lange Geschichte. Die von mir sehr geschätzte Tova Leigh hat zu dieser Doppelmoral kürzlich ein sehr passendes Video auf Instagram veröffentlicht, in dem sie aufzeigt, wie lax unser Umgang mit männlichem Fehlverhalten ist. Wir erwarten von Jungen und Männern keine Reife, wir sehen sie als große Kinder. Selbstverständlich nur, solange es um sexuelles Fehlverhalten geht. In allen anderen Situationen nehmen wir Jungen und Männer ernster als Frauen. Wenn ein Mann Scheiße baut, wird ihm zumindest ein Teil der Schuld im Geiste von “boys will be boys” erlassen. Diese erlassene Schuld lagern wir kurzerhand an die Opfer aus, weil sie sich (vermeintlich wissentlich) in eine gefährliche Situation gebracht haben. Wir akzeptieren damit also, dass es in der männlichen Natur liegt, gefährlich zu sein.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die gleichen Männer, die von Opfern, nicht aber Tätern Eigenverantwortung einfordern, sofort “Not all men!” schreien, wenn Frauen gemäß dieser Haltung Männer erst einmal als grundsätzlich gefährlich ansehen.

Wissen und Nicht-Wissen

Über das sexuelle Versorgungsnetzwerk Lindemanns gibt es offenbar schon länger Gerüchte. Die Youtuberin Kayla Shyx, die bereits im Jahr 2022 ganz eigene Erfahrungen mit dem System Rammstein gemacht hat und dies mit Screenshots von Unterhaltungen belegt, berichtet in einem sehenswerten Video unter anderem von diesen Gerüchten. Sie berichtet außerdem glaubhaft, dass ihr auf ausdrückliche Nachfrage an jene Alena Makeeva, die so etwas wie die Hauptkupplerin in diesem System ist, versichert wurde, dass es nicht um Sex gehe, sondern es sich um eine ganz normale Party im erlauchten Zirkel handele. Auch die Irin Shelby Lynn, die die ganze Veröffentlichung des Systems angestoßen hatte, berichtete davon, ihre Frage, ob es um Sex gehe, sei verneint worden.

Da ist sie wieder, die Eigenverantwortung. Die Frauen sind nicht naiv in die Situation gestolpert, sondern beiden war klar, dass Sex eine Option, vielleicht sogar Grundvoraussetzung für ihre Teilnahme an der “Party” war. Beide haben reif gehandelt, indem sie von vorne herein diese Option erfragt und sich im Falle eines Ja gegen die Afterparty entschieden hätten. Sie haben Vorsicht und Misstrauen walten lassen, wie ich es von einer erwachsenen, eigenverantwortlich handelnden Person erwarten würde. Wo aber durch Manipulation und blanke Lügen Bedenken aktiv zerstreut werden, da kann man von den Opfern nicht mehr verlangen als das, was sie getan haben (wenn man denn überhaupt etwas von Opfern verlangen kann). Fans wurden durch manipulative Freundlichkeit, Unwahrheit und Alkohol in Sicherheit gewiegt.

An dem Punkt entsteht ein missbräuchliches und übergriffiges System, das zu Situationen führt, deren Risiken die beteiligten Fans durch Vorsicht nicht weiter hätten minimieren können. Und genau das ist der Punkt, an dem die Eigenverantwortung von Till Lindemann, Aleena Makeeva, den anderen Bandmitgliedern und sonstigen Bandmitarbeitenden beginnt. Das ist der Punkt, an dem aus einem “Du wusstest, worauf Du Dich einlässt” zu einem “Du wurdest durch aktive und mutwillige Täuschung in eine bedrohliche, übergriffige Situation gebracht” werden muss.

Ein Gedankenexperiment: Nehmen wir eine Person, die sich bei einer renommierten Firma bewirbt. Ein Job bei dieser Firma würde sich im Lebenslauf gut machen. Die Firma ist aber nicht nur renommiert, sondern auch potentieller Ausbeuter. Gerüchte kursieren, dass man schlecht bezahlt wird. Unsere Person bewirbt sich also und fragt ausdrücklich nach einer angemessenen Bezahlung. Da ihr diese zugesichert wird, unterschreibt die Person den Vertrag. Erst bei der nächsten Gehaltsabrechnung geht ihr auf, dass ihr viel weniger bezahlt wird, als ausgemacht war. Würde diese Person nun nachträglich ihr Bewerbungsgespräch öffentlich machen und meldeten sich daraufhin Dutzende andere Personen, denen im Bewerbungsgespräch ebenfalls falsche Versprechungen gemacht wurden, würde die öffentliche Meinung dann auch so ausfallen wie bei dem Rammstein-Skandal? Würden die Männer, die jetzt auf die Eigenverantwortung der Opfer pochen, auch sagen “Hey, Du kanntest die Gerüchte, Du wusstest, dass Du ausgebeutet wirst”? Ich denke nicht.

Eigenverantwortung, let’s go

All jenen, die in den letzten Tagen versucht haben, einen Teil der oder die ganze Schuld für die Ereignisse auf Rammstein-Parties auf die Opfer abzuwälzen, möchte ich eigentlich nur eine einzige Frage stellen: Welche Voraussetzungen müssten erfüllt sein, damit Du den Opfern Glauben schenkst und ihnen Solidarität entgegen bringst?

Die Beantwortung dieser Frage ist Teil unser aller Eigenverantwortung. Nicht als Opfer oder als Täter, sondern als Gesellschaft, in der rape culture ein real existierendes Ding ist, das Opfern mehr Hürden in Weg legt als Tätern.

Abschiedsschmerz eines Fans

All das schreibe ich mit Schmerz im Herzen. Wie erwähnt, liebte und verehrte ich die Kunst von Rammstein seit zwanzig Jahren. Ironischerweise habe ich meine Liebe zu dieser Band über viele Jahre mit “Ich würde jedem einzelnen dieser Band mein Leben bedenkenlos anvertrauen” umschrieben. Die Musik von Rammstein war mir ein emotionales Zuhause, ich hatte einen Crush auf Richard Kruspe, die Musik brachte viele Saiten in mir zum Klingen.

Ich habe die letzten Tage, seit den ersten Posts von Shelby Lynn in einer Mischung aus Traurigkeit und Übelkeit verbracht. Als Fan fühle ich mich betrogen um ein Gefühl, das ich dieser Band viele Jahre entgegengebracht habe. Ich fühle Verlust, Enttäuschung, Schock. Aber so heftig meine emotionale Gegenwehr gegen die Anschuldigungen auch ist, so wenig kann mein Verstand den vielen, vielen glaubwürdigen, schlüssigen, ein absolut widerwärtiges System skizzierenden Beschreibungen entkommen. Ich spüre, dass von diesen Beschreibungen an jedes “Ja, aber” eine Leugnung der Realität wäre. Denn hier tritt eben nicht eine einzelne Frau auf und beschuldigt. Hier steht nicht Aussage gegen Aussage. Hier stehen Dutzende, vielleicht sogar Hunderte Aussagen gegen ein ausgesprochen mageres Dementi von Rammstein. Das tut mir sehr weh. Dass auf Seiten der Täter so gar nichts kommt, was mir ermöglichen würde, weiter Fan zu bleiben.

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17 Kommentare

  1. Danke für Ihr Statement zu diesem Thema, Frau Meike! Ich bin ebenfalls entsetzt über die Kommentare in den sozialen Medien.

    Viele Grüße aus München

  2. Liebe Meike, dein Kommentar beschäftigt mich nun schon eine Weile. Vorab: Ich mag die Musik von Rammstein überhaupt nicht. Sie erinnert mich von Anfang an an neue/alte deutsche Marschmusik, die ständigen Anspielungen auf Totalitarismus und Faschismus finde ich abstoßend. Das Brachiale, Laute – alle dieser Blitz und Donner und dann noch ein volles Stadion gefüllt mit Gestalten, wie man sie aus John Carpenters “Klapperschlange” kennt. Ich frage mich dann immer, wie man derartige Musik “genießen” kann, ich komme nach Hause, setze mich auf den Balkon, schaue (wie du) den Vögeln oder Eichhörnchen in der Stadt zu und lege mir dabei eine Rammstein-Scheibe auf?!. Egal, eine Freundin von mir war vor einiger Zeit mit dem Schlagzeuger der Band zusammen, er muss folglich ein ganz netter Kerl sein, sie wurde nicht ausgepeitscht oder unter Drogen gesetzt. Mag ich die Band vielleicht nicht, weil deren Mitglieder in der DDR sozialisiert worden sind? Möglich, aber eher nicht…ich bin allerdings ein absoluter Gegner der Pornoindustrie, von Snuff-Filmen und der totalen Übersexualisierung unserer Gesellschaft, vieles, was ich mir da so anschauen muss, widert mich einfach nur noch an, vergleichbar vielleicht mit Rainer Langhans, der nach seinen Eskapaden auch irgendwann die Schnauze voll hatte von Gang-Bang und Co. Ich habe vor einiger Zeit einen Artikel einer Feministin gelesen, die sagte, dass sie schon beim ersten Sex erkennen würde, ob ihr Partner regelmäßig Pornos kunsumieren würde, nämlich an dessen Liebesarbeit. Mein Mitleid mit den “gecasteten” Frauen hält sich ebenfalls in Grenzen. Was will ich als Frau auf einem Rammstein-Konzert und erst recht mit dem völlig gruseligen Lindemann, der da irgendwas von weißem Fleisch ins Mikro schreit? Ob Onkelz, Rammstein, Modern Talking, Finch Asozial oder Faschorock – musikalisch (!) ist das für mich ein einziger Horror, der mich in tiefe Depressionen treibt, falls ich dazu gezwungen würde, mir das anzuhören. Bei Rammstein passt einfach alles zusammen, mich erstaunt da nix mehr. “Bisse, Tritte, harte Schläge, Nadel, Zange, stumpfe Säge. Wünsch’ dir was, ich sag nicht nein Und führ dir Nagetiere ein”. Das soll Lyrik sein – und was ist das? “Es ist Kampfgeschrei, was nachts aus unserem Schlafzimmer dringt, weil dank mir in deinem Gleitgel ein paar Glassplitter sind.” Wie kann man das noch steigern? Sex mit Toten oder mit Tieren?

    • Es geht hier ja aber überhaupt nicht um die Qualität oder Nicht-Qualität von Rammstein-Lyrik. Rammstein hätten auch über Jahrzehnte gefälligen Mainstream-Pop machen können, aber das hätte an der jetzigen Situation absolut nichts geändert. Und Frauen das Mitleid zu verwehren, weil man nicht nachvollziehen kann, warum sie auf diese Art von Musik stehen, finde ich schon sehr fragwürdig.

      • Hm, aber im Feulleton wird jetzt die Frage gestellt, ob sie nicht das das machen, wovon sie jahrelang singen… wie gesagt, ich verstehe die Faszination dieser Band nicht; außerdem: Sie gehören doch längst zum Mainstream – Top 10 bei den facebook-accounts usw. Natürlich tun mir die Frauen irgendwie leid, aber du bist doch auch eine Freundin der Eigenverantwortung: Was erwarte ich, wenn ich mit einem Till Lindemann in den Backstage-Bereich gehe? Kuschelsex oder eine Dichterlesung?

        • Noch einmal: Eigenverantwortung hat nichts, absolut gar nichts mit den Inhalten zu tun, den Täter besingen.
          Ginge ich zu einer Autogrammstunde von Bret Easton Ellis, dem Autor von “American Psycho”, würde doch auch niemand auf die Idee kommen zu sagen “Pass nur auf, dass er Dich nicht ermordet und zerstückelt”. Viele Kunstschaffende, Musiker, Poeten, Schriftsteller, Maler wählen Wut oder Aggression als ihre Ausdrucksform. Sie schreiben, malen und dichten eben nicht über Gänseblümchen, sondern über brutale, hässliche, tabuisierte Motive. Wir trennen Kunst von Künstler, weil wir in aller Regel spüren, dass hier verarbeitet, fantasiert und/oder povoziert wird.

          Die Frage “Was erwarte ich, wenn ich mit einem Till Lindemann in den Backstage-Bereich gehe?” kann daher nicht ernst gemeint sein. Was ich erwarte? Dass sich ein Künstler an die Grenzen des Gesetzes hält, verdammt nochmal.

        • Werter Herr Erwin Erkenschwick, haben Sie den Blogtext überhaupt gelesen? Haben Sie versucht, in Ruhe darüber nachzudenken? Falls ja, sind Ihre Kommentare hier tatsächlich das, was sie danach zur Debatte beitragen möchten?

          Irritierte Grüße

  3. “Welche Voraussetzungen müssten erfüllt sein, damit Du den Opfern Glauben schenkst und ihnen Solidarität entgegen bringst?”

    Sie müssten die Täter anzeigen und die Täter müssten rechtskräftig verurteilt werden. So wie alle anderen auch, die den Court der public opinion nicht als Option ziehen können.

    • Das erscheint Ihnen vermutlich wie ein formvollendetes Schachmatt-Argument, daher will ich die hypothetische Situation spezifizieren.
      Der Weg zu einem Gerichtsverfahren (egal, welches Delikt) ist ja durchaus ein längerer. Davor stehen Polizei, Spurensicherung/Beweisaufnahme, Staatsanwaltschaft und erst ganz zum Schluss kommt das Urteil.
      In all diesen Situationen/Institutionen muss ein Opfer (egal, welchen Deliktes) Kraft aufbringen, um zu einem Urteil zu kommen, das Sie anerkennen.

      Deshalb hier die spezifizierte Frage: Eine Frau aus Ihrem ganz persönlichen Umfeld, eine Kollegin vielleicht, ein Familienmitglied, eine Bekannte, kommt zu Ihnen und sagt “Ich bin Opfer von [Delikt] durch [Person] geworden, was rätst Du mir?”
      Unterstützen Sie diese Frau, indem Sie sie ernstnehmen und ermutigen, zur Polizei zu gehen? Oder sagen Sie ihr – wie es in diesem Fall tausendfach geschieht: “Ich glaub Dir nicht, bring mir erst einmal ein Gerichtsurteil bei, dass Deine Anschuldigung bestätigt”?

      Opfer brauchen Unterstützung, um überhaupt Gerechtigkeit durch ein Gericht erlangen zu können. Das gilt für Opfer von sexueller Gewalt umso mehr, da hier ein gesellschaftliches Stigma hinzukommt, Gefühle von Scham. Für eine solche Unterstützung ist es unerheblich, ob Sie selbst [Person] für schuldig erachten oder nicht. Erst einmal geht es nur darum, Opfer ernstzunehmen, ihen das Vertrauen und die Kraft zu geben, sich überhaupt an die Polizei zu wenden.
      Ihr Schachmatt-Argument ist also keines, sondern nur eine billige Ausrede dafür, Opfern kein Mitgefühl, keine Empathie entgegenzubringen und sie nicht ernstzunehmen.

      • Natürlich unterstütze ich sie in diesem hypothetischen Fall. Sie muss ja auch nicht der ganzen Welt erzählen, wie sie behandelt wurde, sondern sucht im persönlichen Umfeld nach Unterstützung. Ganz großer Unterschied.

        Aufgrund der Vielzahl an offensichtlichen Falschbeschuldigungen in den vergangenen Jahren hält sich mein Unterstützungswille für mir fremde Menschen, die den öffentlichen Raum vollheulen, allerdings in Grenzen.

        • “Vielzahl an Falschbeschuldigungen” belegen Sie dann aber bitte auch mit Gerichtsurteilen, ja?

          Und das “hält sich mein Unterstützungswille für mir fremde Menschen, die den öffentlichen Raum vollheulen, allerdings in Grenzen” ist absolut Ihr gutes Recht, das macht Sie nicht zu einem schlechten Menschen oder so, man muss sich nicht auf die Seite des Opfers schlagen. Aber sich eines Urteils über die beschuldigte Person zu enthalten, ist etwas völlig anderes als die vermeintlichen Opfer aktiv zu diskreditieren.

          Ich bin im Übrigen nicht sicher, warum die öffentliche Anklage offenbar so großen Widerwillen in Ihnen erzeugt. Zunächst einmal weiß man ja gar nicht, wie das private Umfeld eines Opfers aussieht. Vielleicht lebt eine Frau so zurückgezogen wie ich. Vielleicht hat sie keine Angehörigen oder nahe Freunde. Vielleicht ist ihr privates Umfeld missbräuchlich oder gewaltvoll. Die Öffentlichkeit kann einem Opfer den Rücken so weit stärken, dass es sich traut, zur Polizei zu gehen. Öffentlichkeit kann Scham mindern, sie kann einem das Gefühl geben, nicht allein zu sein mit der Erfahrung. Öffentlichkeit ist doch nicht nur dazu da, sich seine 15 Minuten Ruhm abzuholen. Erst recht nicht, wenn es bei den Anschuldigungen um berühmte oder mächtige Menschen geht, bei denen a) ein öffentliches Interesse besteht, und die b) alle Möglichkeiten haben, ungestört weitere Übergriffe zu begehen, wenn alles unter den Tisch gekehrt wird und niemand von den Anschuldigungen erfährt.

          Gerade für Frauen bedeutet Öffentlichkeit auch Schutz. Fragen Sie mal in Ihrem Bekanntenkreis, wie viele Frauen bei ersten Dates darauf achten, sich an einem – Achtung, jetzt kommt es – öffentlichen Ort zu treffen.
          Es ist viel, viel leichter für Täter, eine beschuldigende Frau zum Schweigen zu bringen, als (willkürlich gewählte Zahl) 100 Frauen zum Schweigen zu bringen, die alle fast wortgleich ähnliche Situationen beschreiben.

    • Ist das nicht als Argumentation ein bißchen sehr billig?

      Ich glaube den Opfern von Polizeigewalt (die ich oft genug selber beobachtet habe), unabhängig davon, ob es da ein rechtskräftiges Urteil gibt.
      Ich glaube auch den Schilderungen der Menschen, die von Brechmittel-Folter-Olaf (auch CumEx-Olaf genannt) sprechen – auch wenn es da niemals ein rechtskräftiges Urteil geben wird.

  4. Wende deine Argumentation, Meike Stoverock, mal auf den Straßenverkehr an. Natürlich muss man von ALLEN Teilnehmern, männlichen und weiblichen und diversen, vernünftiges Verhalten und die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung erwarten. Gehen wir mit dieser Haltung auf die Straße, fahren wir damit Auto oder Fahrrad? Natürlich nicht, denn dann wäre ich zumindest als passionierter Fahrradfahrer längst tot oder schwerbehindert. Jedem, dem sein Leben und seine Gesundheit lieb ist, und das gilt wiederum für Frauen und Männern gleichermaßen, jeder weiß, dass es IMMER unvernünftige Leute gibt, Männer und Frauen, Raser, Rücksichtlose, Leute, die einem durch Unachtsamkeit oder mutwillig die Vorfahrt nehmen usw. Natürlich arbeitet die Gesellschaft daran, dass das besser wird. Und natürlich stehen ALLE Menschen guten Willens auf Seiten der Opfer und nicht der Täter. Aber wenn wir am Straßenverkehr teilnehmen, richten wir uns nach der REALITÄT, nicht nach unserem Wunschdenken.

    Das lässt sich alles leicht auf die Teilnahme an einem Rockkonzert anwenden. Es geht weder um Moral noch um Musikgeschmack oder sonst was. Es geht einzig und allein um die Anerkennung der Realität, auch wenn sie mir zuwider ist. Ich kann ja dafür kämpfen, dass sie besser wird, sicherer und frauengerechter.

    • Mir geht es um die unterschiedliche Haltung, die Opfern und Tätern entgegengebracht wird. Die weiblichen Fans haben hier durchaus ein gesundes Misstrauen an den Tag gelegt – sie haben ausdrücklich gefragt, worum es bei der Einladung geht, haben sich miteinander in der Situation über ihren Verdacht ausgetauscht – und dennoch heißt es “Wer sich auf ein Rammstein-Konzert begibt, kommt darin um”. Das ist nicht “Ich kann ja dafür kämpfen, dass sie besser wird, sicherer und frauengerechter”, solange Du diese kritische Frage der Eigenverantwortung nur an die Opfer richtest. Man könnte ja auch – in Anerkennung der hässlichen Realität – bessere Security bei Konzerten verlangen, man könnte durch Aufklärung daran arbeiten, dass junge Frauen nicht in diese Falle tappen. Aber so zu tun, als sei ein manipulatives Lügen- und Drogennetz zum Zwecke der Frauenzuführung an Till Lindemann eine Art Naturgewalt, die “eben so ist”, bei “der man nichts tun kann”, das ist nicht kämpfen für eine gerechtere Welt, sondern Sexismus.

      • Wo tue ich so, als wäre das System der Frauenzuführung an Till Lindemann eine Art Naturgewalt, die “eben so ist”, bei “der man nichts tun kann”? Das empfinde ich schon fast als Verleumdung. Das Gegenteil ist richtig! Das ist Menschengewalt, keine Naturgewalt, und gegen Menschengewalt kann man etwas tun. Cynthia A. hat etwas dagegen getan, indem sie ihre Geschichte der SZ erzählte. Sie war immerhin 21 Jahre alt, als sie 2019 nach einem Rammstein-Konzert erst in einer Disko-Kugel tanzte und sich dann von Lindemann überreden ließ, in seine Garderobe mitzukommen, wo er sie vergewaltigt hat (alles laut SZ vom 3./4.6.23). Ich bin dieser Frau dankbar, dass sie den Mut hatte, das so authentisch zu erzählen, dass man den Prozess ihrer Bewusstwerdung, wozu sie sich hat verleiten lassen und was sie sich da angetan hat, nachvollziehen kann. Und daraus folgt, worum es hier gehen muss: um Aufklärung! Cynthia A. tut genau das, was Du zu Recht forderst. Nur durch Aufklärung kann man junge Frauen dazu bringen, nicht der Verlockung zu erliegen, in die Nähe des bewunderten Superstars zu gelangen, um später den Freundinnen davon erzählen zu können.

        • Ich hatte Dich so verstanden, dass Anerkennen der Realität eben (auch) bedeutet, sie als gegeben anzunehmen – und deshalb eben nur von Opfern erhöhte Wachsamkeit oder Meiden der Situationen verlangt. Falls ich das falsch verstanden habe, ziehe ich diesen Teil meiner Antwort natürlich zurück.

          • Danke für die Klarstellung. Die vollständige Wahrnehmung der Realität ist Voraussetzung dafür, dass ich sie zielgerichtet verändern kann, einerseits, um den Tätern das Handwerk zu legen, und andrerseits, um potentielle Opfer aufzuklären. Genau das geschieht zurzeit, weil einige Frauen den Mut hatten, ihre Geschichte mit Rammstein den Medien zu erzählen. Das starke Echo darauf zeigt bereits Wirkung.

  5. Hallo,

    mich schockiert, wie wenig die Menschen in unserer Gesellschaft demokratisch denken.. Deshalb betrifft es mich auch. Denn ich lebe in dieser demokratischen Gesellschaft, und ich will auch, dass sie demokratisch bleibt!

    Manche Gesetze erlauben eine juristische Interpretation. ZB hat eine Frau bei einer sexuellen Handlung deutlich Nein gesagt oder nicht, je nach dem, wie das “aufgefasst/interpretiert” wird, vom Täter, wie es der Richter versteht, danach richtet sich die Aussage, ist es eine Vergewaltigung oder nicht, und danach richtet sich das Urteil.

    Es gibt aber Gesetze, bei denen hat niemand das Recht, sie auf seine Weise zu interpretieren, und durch diese persönliche Interpretation, jemand anderen, bestehende Rechte abzusprechen.

    Dazu gehört das Grundgesetz.
    Ich zitiere Teile heraus:

    Grundgesetz, Artikel 1:
    (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. …

    Grundgesetz, Artikel 2:
    (1) Jeder hat das Recht auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
    (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.

    Grundgesetz, Artikel 3:
    (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
    (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. …
    (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, … benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

    Quelle: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html

    Ich bin es eigentlich müde, immer und immer wieder, Menschen, hauptsächlich Männern und Frauen, die sich an das Patriarchat klammern, zu erklären, was das Grundgesetz bedeutet, was es bedeutet, demokratisch zu denken und zu handeln. Und dass es selbstverständlich ganz genauso auch für Frauen gilt – siehe Zitate oben.

    Es ist gegen das Gesetz, junge Frauen anzulügen, sie in die Irre zu führen, auch wenn sie naiv sind. Sie sind nicht für das kriminelle Handeln eines Täters verantwortlich. Jeder Mensch hat die gleichen Rechte- sei er jung und naiv, intelligent oder nicht, gesund oder krank oder behindert. Es darf für Menschen, die zB naiv sind (weil es zB zur normalen Entwicklung eines Menschen gehört, naiv zu sein, wenn er sehr jung ist) keinen Nachteil sein.

    Ich höre sehr viele Stimmen der Gesellschaft, weil ich konkret danach frage, als aktive Feministin: Frauen hingegen sind eher schuld und “dumm” (als wenn man das jemand anlasten könnte geschweige denn darf! Die Frage stellt sich, wer jemanden vorwirft, dumm zu sein, wie intelligent kann dieser dann sein…) Sie sind schuld, wenn sie naiv sind, wenn sie nicht so intelligent sind, wenn sie abends alleine unterwegs sind, wenn sie sich zu sexy anziehen, wenn sie sich in eine für sich selbst gefährliche Situation bringen, wenn sie mit jmd flirten und wagen, es sich anders zu überlegen oder auch nie vorhatten, mit diesem Menschen Sex zu haben, sondern einfach nur flirten wollten… Diese Aufzählung liese sich noch fortführen.
    Es ist nicht Interpretationssache der Gesellschaft, wer wann schuldig ist.
    Dies steht im Gesetz.
    Und dieses Gesetz gilt auch, völlig unabhängig vom Musikgeschmack der Menschen.

    Und ja, es herrscht Meinungsfreiheit. Aber müssen wir alles aussprechen, was uns zu einem Thema einfällt?
    Sprache prägt unser Denken, Denken prägt unser Handeln.
    Wenn wir immer und immer wieder darüber diskutieren und Meinungen hören, dass oben erwähnte Frauen selbst schuld sind, und sich Frauen verteidigen müssen, was eigentlich ihr ganz normales Recht ist, und wir darüber diskutieren, dass ein Vergewaltiger kein Vergewaltiger ist, weil er eben Künstler und ein bekanntes Arschloch ist (ein absurdes Argument), dann prägt sich das in den Köpfen ein. Und diese Gedanken werden weiter getragen.
    Sie sind nicht demokratisch, auch nicht respektvoll, sondern abwertend Frauen gegenüber. Patriarchalisch. Patriarchat ist und bleibt eine sprichwörtliche “Sackgasse”. (Danke an dieser Stelle, wer solchen Straßen diesen passenden Namen gegeben hat).

    Das Grundgesetz ist eine spannende Lektüre ; )
    Es lohnt sich, sie mal in die Hand zu nehmen und durchaus mal paar Passagen zu lernen, zu reflektieren… Davon profitiert man nicht nur selbst, also der eigene Kopf, sondern auch das Umfeld und die Gesellschaft.
    Danke!

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