Der entmenschlichte Mann

Wie Gesellschaft und Gehirnanatomie dem Mann das Fühlen erschweren

Diese Woche las ich einen sehr guten Blogartikel über die – vorsichtig ausgedrückt – schlechte körperliche und psychische Selbstwahrnehmung von Männern. Es ging darum, dass viele Männer nicht spüren, wenn es Körper oder Seele schlecht geht, oder nicht wissen, wie sie das Problem adressieren können. Diesen wirklich guten Artikel möchte ich um einige eigene Beobachtungen und Überlegungen ergänzen.

Für eine gewisse Selbstfürsorge müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: ich muss spüren, dass es mir schlecht geht (Wahrnehmung), ich muss die negative Empfindung zulassen (Akzeptanz) und ich muss sie beschreiben, um Hilfe zu finden (Verbalisierung). Ist eines davon nicht gegeben, bleibt das Problem unbehandelt.

Ich mache es kurz: Bei vielen Männern steht es schlecht um die Selbstfürsorge. Sie gehen nur dann zum Arzt, wenn es gar nicht mehr anders geht, zur Vorsorge und zur Psychotherapie nach Möglichkeit gar nicht. Die Deutsche Gesellschaft für Mann und Gesundheit stellt fest, dass es häufig eher der Partnerin eines Mannes auffällt, dass mit ihm etwas nicht stimmt, als dem Mann selbst.

Wie bei vielen menschlichen und geschlechterspezifischen Verhaltensweisen spielen auch hier sowohl kulturelle als auch biophysische Faktoren eine Rolle, die zum Nachteil der Männer, aber auch der ganzen Gesellschaft ineinandergreifen.

Rechte Hälfte, linke Hälfte

Es gibt viele Hinweise darauf, dass die Gehirne von Männern und Frauen unterschiedlich arbeiten. Keines arbeitet besser oder schlechter, sondern einfach unterschiedlich. Evolutionär ergibt das Sinn, denn wie bei vielen anderen Säugetieren gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede in den täglichen Anforderungen und die Gehirne haben sich auf diese Anforderungen spezialisiert. Die Geschlechterstereotype, die die männliche Zivilisation daraus abgeleitet hat, dürften hinlänglich bekannt sein, so dass ich sie hier nicht noch einmal aufführe. Stichwort Männer rational, Frauen weich.

Für die Selbstfürsorge nun ist Sprache entscheidend. Wir müssen uns oder anderen beschreiben können, was uns quält, um Hilfe zu bekommen. Ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung von Sprache ist die Kommunikation zwischen der linken und der rechten Gehirnhälfte. Und hier finden wir geschlechtsspezifische Unterschiede. Bei Frauen sind die beiden Hirnhälften besser vernetzt als bei Männern, sie haben daher auch mehr Möglichkeiten, sich mitzuteilen. Männern fehlen dagegen oft die Worte, ihr Befinden zu indentifizieren und zu verbalisieren.

Ich hatte im letzten Jahr eine kurze Romanze mit einem Mann, der oft wirkte wie zwei Persönlichkeiten. Die eine Seite war fast rein deskriptiv, er befasste sich mit der Beschreibung von Ereignissen, nicht seinen Gefühlen dabei. Die andere Seite war emotional so facettenreich wie ich es selten bei einem Mann erlebt habe. Er analysierte seine Gefühle in einer ungeheuren Tiefe und Klugheit. Als ich ihn darauf ansprach, wie verschieden er in sich ist und wie gern ich den emotionalen Teil öfter in unsere Gespräche bringen würde, sagte er, dass das für ihn anstrengend sei, weil er sich sehr konzentrieren müsse, um auf diesen Teil zuzugreifen. Erst als ich mir die Eigenheiten der beiden Gehirnhälften vor Augen führte, ahnte ich, was er damit meinte.

Es gibt demnach also eine tatsächliche physische Hürde, die es Männern erschwert, ihr Inneres wahrzunehmen und zu verbalisieren. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass diese Hürde unabänderlich ist. Unsere Gehirne werden beinahe während des ganzen Leben um- und ausgebaut. Im Kindesalter geht das schneller und leichter als als Erwachsene, aber auch dann kommen immer noch Nervenverbindungen hinzu. Damit sich Synapsen bilden, müssen wir unser Gehirn fordern.
Und hier kommen sozio-kulturelle Einflüsse ins Spiel.

Der harte Hund

Nehmen wir an, das männliche Gehirn neigt tatsächlich bei der Geburt dazu, eher äußere als innere Entwicklungen wahrzunehmen. Da die männliche Zivilisation in der Regel männliche Eigenheiten verstärkt und weibliche unterdrückt, wird dieses “Außen vor Innen” betont. Zukunftsvisionen für kleine Jungen beinhalten oft große Berufe – Astronaut, Erfinder, Feuerwehrmann – also eher Tun (außen) als Sein (innen). Für kleine Mädchen sehen wir eher eine Zukunft als Prinzessin, also bloßes Sein statt Tun. Bereits hier fängt die Prägung hin zu toxischer Männlichkeit an.

Prägung ist ja ein perfides Ding, weil sie weniger aktives Erziehen und mehr subtiles Einschleichen ist. Verbringt der Vater Zeit mit seinem Sohn, geht es zum Fußballspielen, Angeln, Klettern, kurz: Aktivitäten. Tun, nicht sein. Außen, nicht innen. Ein Vater, der vor den Ohren des Sohnes nie (mit wem auch immer) über seine Gefühle spricht, sich nie weich, zärtlich, “schwach” zeigt, kann seinem Sohn zwar sagen, dass der über Gefühle sprechen soll, dass es okay ist, schwach zu sein usw., aber der Sohn wird dennoch eine andere Lebensweise verinnerlichen.

Viele der heute erwachsenen Männer haben außerdem gelernt, dass ein Ind*aner keinen Schmerz kennt, und sie Lob und Anerkennung für Tapferkeit bekommen, also dafür, dass sie einer schmerzhaften Empfindung nicht nachgegeben, sondern Leistung erbracht haben. Diese Männer haben gelernt, sich seelischen und körperlichen Schmerz zu verbeißen, stets zu funktionieren, bis es nicht mehr geht. Dieses “bis es nicht mehr geht” ist der Schlüssel zur männlichen Selbstwahrnehmung. Die meisten glauben, eine Therapie ist nur etwas für Leute, die im Pinguinkostüm herumrennen und sich für Napoleon halten. Ein Krankenhaus ist etwas für Leute, denen Gliedmaßen fehlen oder bei denen Organversagen droht. (Kleiner Lol-Fact: Meine Mutter erzählte mir letzte Woche, mein Vater habe sich Anfang der 70er mit gebrochenem Fußgelenk gegen den Rat der Ärzte nach nur wenigen Tagen selbst aus der Klinik entlassen.)

Wir erziehen also, bewusst oder unbewusst, Jungen zur emotionalen Oberflächlichkeit, zur gefühlsmäßigen Isolation. Das hinterlässt Spuren. Der auf die Behandlung von Männern spezialisierte Therapeut Björn Süfke stellt fest, dass viele Männer oft keine tiefe Freundschaften haben. Sie treffen sich zwar regelmäßig mit Kumpels und Kollegen, reden sich dabei auch den Mund fusselig – aber es geht oft nur um Unpersönliches: Projekte, Sportergebnisse, Hobbies. Wenn überhaupt, ersetzt die Partnerin eine echte Freundschaft und die ist im Fall einer Trennung auch futsch.

Der wortkarge, emotional an niemanden gebundene Einzelgänger, der sein Leben in vollkommener Unabhängigkeit verbringt, gilt in der männlichen Zivilisation als irgendwie cool. Sie bewundert gefühlarme, funktionierende Männer, so dass aus einem schädlichen Einfluss ein positives Selbstbild wird. Männer wollen stark und unabhängig und stets Herr der Lage sein. So sehr, dass selbst solche, die ahnen, dass innen drin etwas nicht okay ist, es nicht wahrhaben wollen. Sie leugnen ihre eigene Schwäche. Vor anderen sowieso, aber mitunter auch vor sich selbst.

Die Härte (positiv als Mut, Tapferkeit, Leistungsfähigkeit verbrämt), zu der wir Jungen mitunter unbeabsichtigt erziehen, führt zu Männern, die ihr Leben nur mit Drogen oder häufiger noch Alkohol ertragen oder gar nicht. 75% der Alkoholtoten in Deutschland sind Männer. 75% der Suizidtoten sind Männer. Die Tragödie hinter diesen Zahlen kann man nicht deutlich genug anklagen. Sich Hilfe zu suchen, über ihre Probleme zu sprechen und damit die Korrektur des positiven Selbstbildes, ist für diese Männer eine so unüberwindbare Hürde, dass sie sich lieber das Leben nehmen. Das macht mich nicht nur fassungslos, sondern auch sehr betroffen.

Reden lernen

Jungen müssen vorgelebt bekommen, dass nicht nur Tun (außen) zu Anerkennung und Liebe führt, sondern auch Sein (innen). Das Ignorieren körperlicher und seelischer Warnzeichen dürfen wir nicht als Tapferkeit beschönigen und durch Lob verstärken. Um den Blick nach innen zu lernen, könnte man kleine Jungen doch auch regelmäßig fragen, wie sie sich fühlen. Statt sie immer nur zu Aktivitäten zu schleppen, könnte man – zum Beispiel im Rahmen einer liebevollen Kuschelstunde – Räume schaffen, in denen sie innehalten, einfach sein und nach innen schauen können und dürfen.

Damit im Erwachsenenalter anzufangen, ist möglich, aber ungleich schwerer. Es gibt einige Techniken, etwa Yoga, Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung, mit denen man nicht nur Entspannung, sondern auch eine bessere Innenwahrnehmung erreichen kann. Aber um sich darauf einzulassen, müssen Männer ihre eigene schlechte Wahrnehmung erst einmal sehen. Sie müssen mindestens vermuten, dass sie in sich ausgedehnte weiße Flecken haben, die zu erkunden sich lohnt. Weil es ihnen ermöglicht, tiefere Verbindungen einzugehen und in Krisenzeiten Freunde – wirkliche Freunde – als Unterstützung zu haben.

Denn dass sich Männer Wärme, Hilfe und Liebe wünschen, steht außer Frage. Vor ein paar Jahren tauchte in den sozialen Medien ein Video auf, in dem eine weibliche Nutzerin ihre männlichen Follower fragte, wen sie anrufen würden, wenn es ihnen richtig schlecht geht. Die einhellige Antwort lautete “Niemanden”. Einige der antwortenden Männer hatten dabei Tränen in den Augen. Sie erklärten ihre Isolation damit, dass es niemanden interessiere, wie es ihnen geht. Natürlich steckt darin viel narzisstischen Anspruchshaltung und auch viel Selbstmitleid, aber eines stimmt ganz sicher: Wenn man kleine Jungen immer nur zu Aktivitäten schleppt, sie zum Tun ermutigt und das Sein vernachlässigt, dann entwickeln sie eben die Überzeugung, dass das Innen im Vergleich zum Außen für die Gesellschaft bedeutungslos ist.

Wir lernen gerade erst, dass eine menschenfreundliche Welt auch und vor allem mit der Erziehung der Jungen zu tun hat. Weil aus der spielerischen Härte eines Jungen irgendwann die todernste Härte eines Mannes wird, der sich und anderen keine Schwäche durchgehen lässt. Und eine Welt, die von solchen Männern und damit ihrem Selbstbild und ihren Werten regiert wird, bietet absolut niemandem ein lebenswertes Leben.

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5 Kommentare

  1. Die Beschreibung ist korrekt. Ich erkenne mich darin wieder (alter, weißer Mann). Und ja, etwas mehr Innerlichkeit kann uns gut tun. Und leider auch ja. Das ist schwierig, wenn man schon älter ist. Yoga und Meditationen haben wohl meinen Geist geöffnet, aber nicht für andere Menschen. Immer noch würde ich sagen, wenn es mir schlecht geht, ziehe ich mich zurück und belästige damit niemanden anderen. Dennoch fehlt mir, was Sie vermutlich unter patriarchale Stereotypen abgehakt haben. Warum wir Männer so sind und erzogen wurden. Ob es nicht vielleicht einen Sinn hat. Und umgekehrt: Prinzessin-Sein klingt für mich ähnlich toxisch, wie Macher sein (ich erinnere mich da an einen einschlägigen Dramenzyklus von Elfriede Jelinek). Ich fände es schön, wenn wir einen Weg fänden, wie sich Männer und Frauen (und welche Gender es zudem noch geben mag) friedvoll und ergötzlich ergänzen.

    • Lieber Herr Gfaller, da haben Sie was Wichtiges gesagt: “Prinzessin-Sein ist ähnlich toxisch” . Das sehe ich als Frau ganz genauso und ärgere mich über die Spielzeug- und sonstige Industrie, die die kleinen Mädchen in die Prinzessinnen-Falle lockt. Es ist leider schwer dagegen an zu erziehen. Es ist ja nicht nötig, alle Klischees nun auf den Kopf zu stellen (Mädchen hart, Jungs weich), aber es wichtig, voneinander zu lernen. Wenn Sie sich allerdings zurückziehen wollen und niemandem zur Last fallen wollen, dann ist das aber auch eine weibliche Haltung im Alter, wir wollen unseren Kindern und Enkeln möglichst auch nicht zur Last fallen, weil die in der Mitte ihres Lebens einen stressigen Alltag haben. Vielleicht sollten wir alle gemeinsam etwas mutiger werden und uns unserer Umwelt besser mitteilen, wie es uns ums Herz ist. Einfach mal einen Schritt nach vorn wagen, und manchmal wird man überrascht, was einem Positives widerfahren kann.

  2. Ich verstehe die Beobachtungen, Argumente und Ideen der beiden Artikel (Blogartikel + Frau Meike) und stimme ihnen auch zu. Trotzdem: Widerspruch. Aus meiner eigenen ca. 25jährigen “Nicht-Beziehungs”Erfahrung. Mir wurde schon mehrfach gesagt, dass ich “anders” sei. Ich weine, rede offen, sogar über Gefühle, höre zu, kann mir Namen und Geburtstage merken, habe sogar gute Geschenkideen, liebe aufrichtig, sage das den Frauen auch noch, bin nicht dominant, sondern sehr rücksichtsvoll bzw. zurückhaltend. Mehrere Frauen hielten mich für schwul, weil ich nicht so typisch männlich sei. Konsequenz: “Du bist wirklich sehr nett, ich mag Dich auch sehr, aber ich glaube, das passt nicht mit uns.” (= Ich lasse mich lieber von einem anderen, besser aussehenden Typen ficken und schwängern.) Sogar die unglückliche Frau, die mich seit Jahrzehnten zurückweist und lieber einen narzisstischen Super-Macho heiratet, war so vermessen mir zu sagen, dass sie sich wünscht, dass Jungs “sensibel” erzogen werden. Alleinerziehende Mütter erzählen mir, dass sich ihr zweiter Mann jahrelang “wie ein Eisblock im Bett” verhalten hat, es selbst aber erst nach dem dritten Kind schaffen, sich von ihm zu trennen. Und dieser Mann hat nach der Trennung jedes Jahr eine neue Frau an seiner Seite, die für ihn die Beine breitmacht. Da frage ich mich natürlich, was denn jetzt, im Sinne der eigenen Fortpflanzungschancen und Zufriedenheit, besser oder “erfolgreicher” ist? Was soll ich meinen beiden Jungs denn aus “evolutionsbiologischer Sicht” vorleben und erklären? Soll ich ihnen sagen: “Fickt jede Frau, die ihr kriegen könnt! Labert bloß nicht von Gefühlen, sondern küsst und vögelt! Hinterher könnt ihr immer noch reden. Irgendwann ist schon die richtige dabei, da könnt ihr dann auf Gefühl machen.” oder soll ich ihnen das mit den Gefühlen vorleben und dann in zwanzig Jahren immer wieder mal sagen: “Wenn ihr kurz davor seid, Euch aus Verzweiflung umzubringen, weil ihr immer nur abgelehnt werdet, oder nicht mehr wisst, wohin mit eurer ganzen Liebe, ruft mich an! Wir können dann reden! Ich höre Euch zu!” Es scheint auch ein Unterschied zu sein, wie Frau Meike es selbst in einem anderen Blog-Eintrag geschrieben hat, ob eine Frau zwischen 18 und 40 Jahre alt oder ob sie älter ist. Es scheint sehr viele Frauen im gebärfähigen Alter zu geben, die, in Abhängigkeit vom Moment im Zyklus, auf Muskeln, Dominanz und tiefe Stimme stehen. Tendenz: Typen, die dem eigenen Vater ähnlich sind. Ein Muster, von dem sie sich anscheinend nur schwer lösen können. Die beiden Blog-Artikel sind von Frauen zwischen 40 und 50 geschrieben. Aber wie denken Frauen zwischen 16 und 40 WIRKLICH? Wie ehrlich sind sie? Die Unzufriedenheit einiger Frauen mittleren Alters ist, meines Erachtens, auch zu einem großen Teil selbstverschuldet.

  3. Wie kommt es zu solchen Männern? Ein paar Gedanken:

    Das Mädchen kann sich in der frühen Kindheit viel länger mit der Mutter identifizieren, während der Junge eher sein Anders-Sein erfährt – sowohl am Unterschied der Körper als auch an der ihm zugeschriebenen Erwartung wie er als Junge sein soll/wird. Das bewirkt ein früheres Loslösen von der Mutter in der Erfahrung, ein eigenes Selbst zu sein. Wenn bis dahin in der Entwicklung ein Defizit an Gefühlsreifung (unten mehr dazu) aufgelaufen ist, und/oder der Vater eine mütterliche Seite nicht zur Verfügung stellen kann, entwickelt sich ein für seinen Körper und seine Gefühle … (partieller) Analphabet. Er kann den Körper v.a. über Leistung oder Schmerz erfahren (und geht auch seltener zum Arzt); Gefühle sind ‘unprofessionell’ oder ein Zeichen von Schwäche (denn er hat ja nicht er-reift, dass er auch mit/in/trotz seinen Gefühlen ein starkes Selbst sein kann). Die eigentliche Schwäche ist aber die Angst vor dem Überwältigt-Werden des hier zu wenig ausgebildeten Selbst durch diese unheimlichen, unkontrollierbaren Zustände. Solche kernlosen Kerle werden im Leben von Männerbünden angezogen, in denen ja nie ein respektvolles Frauenbild herrscht (oder gibt es Ausnahmen?). Hier ist man sicher vor der Frau, die unbewusst als eine Wiederverkörperung jener Mutter erlebt wird, die damals eine (anfangs fast vollkommene) Macht über das kleine Selbst hatte, als es noch nicht (zuerst) erst die Kontrolle seiner eigenen Körperlichkeit und (dann) das Stabil-Bleiben auch bei stärkeren Gefühlen erworben hat. Jede Frau im Leben wird dann zu einer Gefährdung der Selbstkontrolle, und die Abwehrmechanismen gegen diese Angst sind seit Freud gut untersucht.

    Die beste Darstellung (meiner Kenntnis, zugegeben nicht viel) stammt von einem Pionier, Donald Winnicott, auf den die Begriffe ‘Wahres Selbst’ und ‘Falsches Selbst’ zurückgehen. Eine gute Darstellung findet man hier (sehr empfohlen!:
    https://www.sas.upenn.edu/~cavitch/pdf-library/Winnicott_EgoDistortion.pdf

    Dazu ist anzumerken, dass die Begriffe ‘Wahres Selbst’ und ‘Falsches Selbst’ durch den historischen Forschungspfad bedingt sind; sie führen heute in die Irre. Wenn man Winnicotts Verständnis der Entwicklung nicht kennt, hält man leicht ‘Wahres’ und ‘Falsches’ Selbst für zwei gleichwertig nebeneinander stehende (eigene) Persönlichkeiten, von denen im Leidensfall nur die eine, falsche, gelebt wird und die man nur durch die andere, richtige, auszutauschen braucht. Dieses Verständnis ist leider in die Pscho-Folklore eingegangen und wird leider auch von Therapeuten oft so gebraucht.

    Das ‘Wahre Selbst’ ist (wie im verlinkten Buchkapitel dargestellt) der Selbst-Kern, der Anfangs durch eine stabile Verankerung in einem guten Körpererleben entsteht und später die Grundlage von Kreativität, Spontaneität, dem Gefühl von Lebendigkeit und der Echtheit des Lebens darstellt. Das ‘Falsche Selbst’ entwickelt sich durch die Notwendigkeit, sich anderen anzupassen; zuerst und am meisten der Mutter und ihren Bedürfnisse, Launen und Möglichkeiten, ggf. auch erzwungen durch eine äußere Situation. Es wird im gesunden Fall *nach* dem Entwickeln der Grundlage eines Wahren Selbst hinzu erworben. Es macht es den Menschen erst zur zum Leben in einer Gesellschaft befähigten Persönlichkeit und ist daher keinesfalls ‘falsch’. ‘Falsch’ ist seine zu frühe Entwicklung wenn das ‘Wahre Selbst’ sich nicht aufbauen kann.

    Ich suche hier noch nach passenden kurzen Begriffen. Es wäre m.E. angemessener, beim Erwachsenen mit einem stabilen Selbst-Fundament von einer ‘endogen belebten’ Person mit ‘autogenen Impulsen’ (Wahres Selbst) oder einem ‘autophorischen’ (sich selbst tragenden) Menschen zu sprechen. Wo dies Fundament fehlt bzw. zu schwach ist, dann von der nur ‘adaptiven Persönlichkeit’ mit ‘allogener Motivation’, ein ‘allophorischer’ (vom [Selbst-]Fremden getragener) Mensch.
    (Das sind nur meine Ideen — kann jemand mit besseren Altgriechisch-Kenntnissen etwas dazu sagen?)

    Die im Blogpost beklagten kernlosen Kerle entstanden m.E. als Folgen einer ‘not good enough mother’ (Winnicott); sie haben ein Falsches Selbst ausgebildet. (Natürlich gibt es auch Frauen mit Falschem Selbst [die oben kommentierten Prinzessinnen z.B.] die sich als Kleinkinder an andere äußere Muster/Erwartungen/Vorbilder anpassen mussten.) Sie haben sehr früh nicht nur die Äußerungen des entstehenden Wahren Selbst nicht bestätigt und gefördert bekommen, sondern auch noch eine feste Schutzschicht über die unreif gebliebenen eigenen Impulse legen müssen. Daher leben sie als Erwachsene wenig kreativ, spontan und authentisch — eben “mit einem Kondom über dem Herzen”.

    Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ausbeutbarkeit des Falschen Selbst liegt auf der Hand. Beispielsweise muss man nur seine Stärkung versprechen (nicht immer anpassen: “Unter’m Strich zähl’ ich”, “Weil ich es mir wert bin”) oder es substituieren (wer sich als Mann keine vitale Attraktivität zutraut greift zum “AXE-Effekt”) Oder man ersetzt Autonomie durch Gruppengeist (“Identität”, “Wir gegen die” — von Sippe/Clan über Fußballverein und Nation bis Religion).

    Tragisch hier der Trend, die einzigen hier wirksamen Therapien immer weiter zurückzudrängen. Tiefenpsychologisch fundierte Therapie und vor allem die Psychoanalyse sind geeignet, nachholenderweise ein Wahres Selbst aufzubauen. Leider geht die Entwicklung zu immer mehr Kurztherapien, die hier wenig ausrichten können und eher die Symptome des Falschen Selbst einzeln zurückzudrängen versuchen.
    (Aktueller Artikel in diesem Kontext in ZeitMagazin 3/2023, 11. Jan 2023 — wer schnell ist findet heute [2023-01-18] noch eine Ausgabe; v.a. an Tankstellen und Bahnhöfen hat man Chancen, für Abonnenten auch online:
    https://www.zeit.de/zeit-magazin/2023/03/psychoanalyse-sigmund-freud-psychotherapie-depression-raetsel-des-unbewussten)

    Das obige kann man leicht fehlinterpretieren als
    a) Schuld sind immer Frauen — die Mütter,
    b) Abhilfe schafft die klassische Frauenrolle, sie gehören an Wiege und Herd.

    a) Falsch. Üble Situationen können es auch der besten Mutter unmöglich machen, eine ‘good enough mother’ zu sein. Von individuell (zB. alleinerziehend) über kleine Kollektive (arme oder geflohene Familien) bis zur großen Katastrophe (Mütter von Kriegskindern).
    Auch ein dysfunktionaler Vater (im Extrem: gewalttätig, Alkoholiker) kann das Kind zu einer extremen Anpassungsleistung zwingen, die auch die beste Mutter nicht kompensieren kann.
    Außerdem können auch Männer die Qualitäten einer ‘good enough mother’ haben, und sollten es auch. (Nota bene: Winnicott publizierte ab 1931 und konnte nur die Männer und Familien seiner Zeit beforschen, sein Begriff ‘Falsches Selbst’ wurde erstmals 1960 publiziert!)
    b) Das bewirkt beim Kind, dass es die der Mutter aufgezwungene Rollenanpassung übernimmt. Beim Jungen die Haltung der Anpassung, beim Mädchen dazu auch in direkter Kopie die Rolle.
    Dazu kommt das Ressentiment der Mutter (evtl. unbewusst, wenn sie sich ihre Position schönreden muss, um sie ertragen zu können), die sich nicht selbst verwirklichen konnte, das dem Kind ein Lebensgrundgefühl von permanenter Verunsicherung wegen seiner Daseins-Schuld ins Leben mitgibt.

    So, keine Zeit mehr zum gründlichen Korrekturlesen, wer Fehler findet darf sie behalten. :-)

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