Licht, verschleiert

Als ich heute Morgen auf meinen Balkon trete, hängen dichte Nebelschwaden vor der Sonne. Irgendwie passend, denke ich, zünde mir eine Zigarette an, blase den Rauch aus und füge dem Nebel weitere Schwaden hinzu.

Aber passend wozu? Bevor ich weiß, wie mir geschieht, befinde ich mich in dem Kaninchenbau namens Jahresrückblick. Kommt man ja dieser Tage kaum drum herum. Also überlege ich, was in diesem Jahr passiert ist und ob ich über irgendetwas davon einen Text schreiben kann.

Da war im Frühjahr der mäßige Sex mit einem Mann und im Juni der überirdische Sex mit einem anderen. Aber niemand mag sich alternde Leute beim Sex vorstellen, egal wie der war. Außerdem würde es so aussehen, als hätte ich ein regelmäßiges Sexleben und das kann man nun wirklich nicht sagen. Irgendwann schreibe ich vielleicht mal darüber, wie es so ist, seine sexpositive Seite erst als Frau über 45 zu entdecken, aber nicht heute.

Da waren zwei depressive Episoden, die mir zusammengenommen ungefähr vier Monate des Jahres geraubt haben. Habe ich schon genug drüber in den sozialen Medien geschrieben, muss nicht nochmal sein. Irgendwann schreibe ich vielleicht mal darüber, wie man sich selbst im Auge behält, wenn man zu Depression und Angstsymptomatik neigt, aber nicht heute.

Da ist der erste Fall meines Meisterdetektivs Skarabäus Lampe, “Das Strahlen des Herrn Helios”, erschienen, aber Interesse und Buchkäufe blieben weit hinter meinen Erwartungen zurück, so dass ich vor allem finanzielle Sorgen empfinde, wenig Freude. Irgendwann schreibe ich vielleicht mal darüber, wie falsch der Eindruck ist, dass jemand, der ein Buch schreibt, irgendwie berühmt und damit wohlhabend ist, aber nicht heute.

Da hat mein geliebter Kater Bärli vor vier Tagen sehr überraschend die niederschmetternde Diagnose “Hochgradiges rechtsseitiges Herzversagen” bekommen und ich habe drei Abende nur geweint, weil ich das Gefühl hatte, mich in Tagesfrist von ihm verabschieden zu müssen. Aber das Sammelsurium von Medikamenten, das er seitdem bekommt, scheint tatsächlich etwas zu tun, denn seit Donnerstag geht es ihm sichtlich besser. Irgendwann schreibe ich vielleicht darüber, wie dieser kleine Plüschbär mein Seelenverwandter ist und er bekommt den Nachruf, der seiner würdig ist, aber nicht heute.

Da hat meine Frau Mutter endlich ein funktionierendes Antidepressivum bekommen, so dass ihre Generalisierte Angststörung sich endlich etwas bessert. Irgendwann schreibe ich vermutlich ein ganzes Buch darüber, wie die GAS eigentlich ein Leben lang wie ein Damoklesschwert über meinem Verhältnis zu meiner Mutter hing, aber nicht heute.

Da ist Maxi Jazz gestorben, der charismatische Geschichtenerzähler von Faithless, und sein Tod hat mich sehr traurig gemacht. Irgendwann schreibe ich vielleicht darüber, wie langwierig und schwierig es für mich war, als Teenager der 80er und 90er Jahre, ohne Internet oder Kabelfernsehen und in einem Nicht-Akademikerhaushalt meinen eigenen Musikgeschmack jenseits der Popcharts im Radio zu finden, aber nicht heute.

Wie wäre es also mit einem Blick nach vorn?

Ach, da wird es noch ärger mit den finanziellen Sorgen, weil sich mein Konto viel schneller leert als ich Buchverträge bekomme. Lieber schnell verdrängen, sonst stecke ich gleich in der nächsten depressiven Episode, die mich ironischerweise daran hindern wird, Bücher zu schreiben.

Und der Bär? Niemand kann sagen, wie weit die Medikamente ihn stabilisieren werden. Wenn sie weiter ihre Magie wirken, bleibt er mir womöglich noch eine Weile. Und wenn nicht, steht hier eben doch bald ein Nachruf. Und das gehässige Gelächter vom kleinen Katzi, das endlich ALLE Aufmerksamkeit nur für sich bekommt.

Da ist das ganze Drunter und Drüber um mein bisheriges Social-Media-Zuhause Twitter, aber da weiß man ja auch noch nicht, ob und wie das weitergeht oder ob wir bald alle halb verhungert und von der Sonne verbrannt auf der Insel namens Mastodon stranden. Und bis dahin ist es schwierig, mir zu überlegen, wie ich soziale Medien mehr für meine berufliche Zukunft nutzen kann und möchte.

Offen gesprochen, langweilt mich dieses Rückblicken und Ausblicken jetzt schon, dabei habe ich noch nicht einmal die Hälfte der Zeichen, mit der ich zufrieden bin. Aber weil in beiden Blickrichtungen der Nebel überwiegt und ich eigentlich lieber den Moment genießen will, in dem der Bär einigermaßen ruhig atmet, ich einigermaßen psychisch stabil bin und sich auf meinem Konto noch etwas Geld befindet, lasse ich das jetzt sein. Mir dreht sich schon alles im Kopf vor lauter Gucken in alle Richtungen.

Ich habe mir gestern Haferkekse gebacken, vielleicht befasse ich mich ein bisschen mit denen. Haferkekse sind nämlich die Sonne hinter dem Nebel. Für mein deprimierendes Leben ist danach immer noch Zeit.

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3 Kommentare

  1. Da war mein erster Halbmarathon im Mai. Da war das schöne Abi-Treffen im Juni mit neu aufgelebtem Kontakt zu einer Schulfreundin. Da waren die Marihuana-Kekse mit einer anderen Schulfreundin und Bewusstwerdung einer Art Seelenverwandtschaft. Da waren die ersten Saltos vom Ein-Meter-Brett im Freibad. Da war die neue Westerngitarre von Martin & Co. Da war der cremigste und leckerste Weichkäse aus Thüringen ever. Da war das morgendliche Kuscheln mit meinen beiden Jungs. Da waren die vielen Ideen für das Kategoriensystem meiner Diss. Da waren die offenen Gespräche mit meinen Freunden. Da waren die verbindenden Telefonate mit der unglücklichen und unerreichbaren Liebe meines Lebens. Da waren zwei neue Sonnenbrillen, mit denen ich meine Coolness so richtig auf die Straße bringen kann. Da waren die Tränen abends allein im Bett. Da war die Lektüre von “Jane Eyre”. Da waren die interessanten Texte von Frau Meike. Da war das Lachen meiner Kolleg*innen und Student*innen. Da war “Vampire Weekend”. Da war das berührende Konzert von AnnenMayKantereit in Köln. Da war der erste Heiligabend allein ohne einen Anflug von Traurigkeit.
    Da war kein Kuss weit und breit. Da war kein Sex, nirgends. Da war viel zufriedenes Grundrauschen. Nächstes Jahr ein paar “glückliche Spitzen”?

  2. Liebe Meike,
    danke für deine ehrlichen, klugen, offenen und berührenden Zeilen. Direkt mal zum Anlass genommen dein Buch zu bestellen – wollt ich eh braucht noch nen Anstupps.
    Mach´s gut, alles Liebe,
    Simone

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