Der Nachbar mit der Lungentuberkulose

Vielleicht ist es auch keine Lungentuberkulose. Vielleicht ist es auch Lungenpest. Oder Asthma. Oder was Psychosomatisches. Ich weiß noch nicht einmal, welcher Nachbar es ist. Aber er hustet, seit Monaten schon, schlimm. Es ist ein trockener, unaufgeregter Husten. Ein Husten, der anstrengend auf der Lunge ist, weil es nichts gibt, was man aushusten könnte. Der Körper krümmt sich beim Husten, der Brustkorb presst sich selber aus wie eine Orange, aber da kommt nicht außer einem leeren Bellen. Ich weiß es nicht und ich will es nicht wissen. Ich will nur, dass er aufhört zu husten. Egal wie.

Ich hasse seinen Husten. Weil er mir Angst macht. Weil er Erinnerungen weckt, die nicht da sein sollen. Die weg sein sollen. Ich mache Witze auf Twitter über seinen Husten, um mich von den Gedanken abzulenken, der heimlichen Sorge, der heimlichen Angst. Haha, bestimmt Pest.
Geh weg, sage ich zu der Erinnerung. Das ist kein Lungenkrebs und wenn, dann ist es ein Lungenkrebs, der mich nichts angeht. Ich hatte meinen Lungenkrebs und ich habe den Vater, der an dem Krebs dran hing, in ein Grab gelegt und dort gelbe Rosen gepflanzt, wie er es sich gewünscht hat. Neben dem Grab wuchsen Pilze und neben den Pilzen hoppelte einmal ein Kaninchen und einen Uhu gibt es auch auf dem Friedhof. Sagt der Friedhofsgärtner, der hat mal ein Foto von dem Uhu gemacht. Ein schöner Platz war das damals. Heute, heute ist es anders. Die Rosen wollen nicht wachsen, sie sind spingelig und greifen mit nackten Armen nach der Sonne, die Pilze sind nicht wiedergekommen, es gibt kein Kaninchen. Nur eine Katze hat Mutti mal am Grab gesehen, eine grau getigerte, die sich an dem Grabstein rieb, unter dem der Lungenkrebs lag. Aber trotzdem. Da unten, da liegt er, mein Lungenkrebs, mein Vater.

Ich hatte meine Portion Lungenkrebs, ich habe ihn gerochen, gehört, gesehen, dankeschön, mehr brauche ich nicht. In meinem ganzen Leben habe ich nichts gerochen, das so eklig war wie Lungenkrebs, noch nicht einmal damals in der vierten Klasse, als wir einen Ausflug zum Klärwerk gemacht haben.

“Ich setze Klärwerk.”
“Ich gehe mit und erhöhe um Lungenkrebs.”
“Sorry, bin raus.”
“Ich auch.”
[Lungenkrebs streicht Chips im Wert von zehntausend Dollar ein.]

Wäre dies Hollywood, würde ich sagen, nie werde ich diesen Geruch vergessen, und mit schmerzerfülltem Blick aus dem Fenster schauen. Aber die Wahrheit ist, ich weiß nicht mehr, wie es gerochen hat. Ich habe es vergessen. Nur wenig ist mir geblieben von unserer letzten gemeinsamen Zeit. Die letzten bewussten Worte. Der Moment, als ich die Spritze mit dem Schmerzmittel nicht richtig setzte und ihm Schmerz verursachte, ich wollte es richtig machen und habe ihm weh getan. Vielleicht ist seine letzte Erinnerung an das Leben der Schmerz, den ich gemacht habe. Zwei Jahre Therapie, um mir diese Schuld zu verzeihen. Den Moment des Todes und die Träne, die dabei irgendeinem physiologischen Gesetz folgte und aus seinem Auge lief.
Und der Husten.

Dieses ausdruckslose Monster, das ihn anderthalb Jahre begleitet hat, das Kraft verzehrt und niemals Erleicherung bringt. Ein Husten, der nichts will als aus der Lunge raus. Kannst du noch? Ich glaube, Du kannst noch. Komm, noch einmal. Husten. Arme, die beim Einatmen ausholen, als wollte er Kirschkerne spucken. Aber da sind keine Kirschkerne, nur Luft, giftige, faulige Luft. Wie ist es jetzt? Noch einmal? Nein, es ist so anstrengend. Doch, das schaffst Du. Wieder husten. Bitte, gib mir einen Moment. Er liegt so gerne auf der Seite auf dem Sofa, auf den Ellbogen aufgestützt, und schaut fern, aber das geht nicht, auf der Seite kommt der Husten. Hallo, da bin ich wieder. Achtundfünfzig Kilo auf einmetervierundachtzig. Alles krümmt sich.
Der Husten ist alles, was ich hasse. Der Husten ist der, der die Qual bringt. Immer schwächer zu werden, immer weniger zu wiegen, ist kein Spaziergang, das glaub nur nicht, mein Kind, aber der Husten dabei, der ist wie ein Tritt, wenn man schon am Boden liegt. Der ist wie weiterpeitschen, wenn der Rücken schon übersät ist mit ausgefransten Wunden. Der ist wie Tuberkelbazillen, die man in eine Wunde reibt, die sowieso tödlich ist. Der Husten ist das, was einen wünschen lässt, dass es vorbeigeht, schnell vorbeigeht. Der Husten ist der, der den Tod wie einen freundlichen Opi erscheinen lässt.

Und jetzt höre ich den Husten wieder. Seit Monaten schon.
Ich bin fast sicher, dass es Lungentuberkulose ist. Oder was Psychosomatisches. Denn wenn es etwas anderes wäre, dann würde ich ihm wünschen, dass es schnell vorbeigeht, und das will ich nicht. Jemandem den Tod zu wünschen, ist etwas sehr Großes, das macht man nicht mal eben nebenbei. Ich habe meinem eigenen Vater den Tod gewünscht, obwohl ich mit ihm lachen wollte. Obwohl ich wollte, dass er gesund ist. Obwohl ich wollte, dass er noch eine Weile bei mir bleibt. Ich habe ihm den Tod gewünscht, weil das alles war, was ich für ihn tun konnte.

Niemand kann sich den Krebs der ganzen Welt ans Bein binden.
Entschuldigen Sie, haben sie Krebs? Na, dann werde ich Sie jetzt mal begleiten bis zum Schluss.
Das geht nicht, das kann man nicht machen. Sie haben Ihren Lungenkrebs, ich hatte meinen. Belassen wir es dabei. Und hören Sie auf zu husten.

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7 Kommentare

  1. wäre ich bei flattr, würde ich das sofort donatieren. so bleibt mir nur ein: “gott vergelts !”

  2. .

    (Ich hatte auch meinen Krebs, und auch meinen Papa, der dranhing und jetzt nicht mehr da ist. Wenigstens ohne Husten.)

  3. Ich habe auch ein paar Jahre schrecklich ununterbrochen gehustet. Kein Arzt konnte helfen. (Auch Codein konnte den Husten nicht lindern). Einmal habe ich gefastet => Husten plötzlich weg. Wieder gegessen => Husten zurück. Ich mach’s kurz: Es lag am Gluten (in Brot, Nudeln, etc.). Bei glutenfreier Kost habe ich keinen Husten und ich bekomme wieder genügend Schlaf.

  4. […] DER NACHBAR MIT DER LUNGENTUBERKULOSE / Frau Meike (22.01.2014) “Wäre dies Hollywood, würde ich sagen, nie werde ich diesen Geruch vergessen, und mit schmerzerfülltem Blick aus dem Fenster schauen. Aber die Wahrheit ist, ich weiß nicht mehr, wie es gerochen hat. Ich habe es vergessen. Nur wenig ist mir geblieben von unserer letzten gemeinsamen Zeit.” […]

  5. Hallo Meike,
    ein verdammt guter Text. Ehrlich, es ist ein unschönes Thema, aber es ist so ehrlich geschrieben. Ich kann es direkt fühlen. Obwohl mein Vater “nur” Multiple Sklerose hatte, ist dieses schwere Gefühl einer abartigen Krankheit wieder da. Wenn man einem geliebten Menschen den Tod wünscht.
    Danke!
    LG Eva

  6. Heute gibt es nur noch wenige Menschen, die nicht ihren eigenen Krebs haben, an dem ein Vater, eine Mutter, eine Oma, eine Schwester, ein Mann, ein Kind hängt und mit diesem beerdigt wurde. Ich habe einen Lungenkrebs, der mit mit meinem Opa, einen darmkrebs, der mit meiner Oma, einen Brustkrebs, der mit der anderen Oma und einen widerlichen, verf…. Lymphdrüsenkrebs, der, vor nicht allzu langer Zeit, mit meinem Vater beerdigt wurde, nachdem er ihn erstickt hat.
    Und ich habe noch einen ganz persönlichen Lungenkrebs, den ich nach einer Woche Herumlaufen mit der Überzeugung, ich wäre bald tot, dann doch nicht hatte und für dessen Diagnose ich seitdem einen tiefen inneren Groll gegen alle Ärzte hege, die über ihrer jahrelangen Beschäftigung mit Siechtum und Tod vergessen, dass es für Betroffene nicht ganz so nüchtern zu verkraften ist, wenn man sie mit solchen Diagnosen nach Hause schickt, weil sie sie weiter mit sich herumtragen, auch wenn sie sich als falsch herausstellen. Ich zucke heute noch bei jedem Husten zusammen – ob nun eignem oder dem des Kindes oder der Nachbarn, weil ich fürchte, er kriegt uns doch noch. ich hasse es, wenn jemand hustet.

    LG, Katja

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