Requiem für einen Meckerrentner

Die Ärztin kommt um kurz vor 20 Uhr. Sie ist sehr einfühlsam und rücksichtsvoll. Erklärt mir noch einmal den Ablauf, lässt mir Zeit für den Abschied. Du liegst auf dem Bett – dort, wo Du in den letzten Wochen sehr oft gelegen hast, weil Du dort am besten atmen kannst. Eigentlich liegst Du nicht, Du kauerst. Dünn bist Du geworden. So viel Kraft und Willen steckte früher in Dir. So viel, dass es mir fast unmöglich war, Dich hochzuheben. Jetzt wehrst Du Dich kaum, als ich Dich wieder auf Deinen Platz setze, den Du nur verlassen hast, weil plötzlich ein fremder Mensch in der Wohnung ist. Trotz Deiner Nervosität über die Ärztin versuchst Du nicht, abzuhauen, und wenn ich noch irgendein Zeichen gebraucht habe, dass das, was nun kommt richtig ist: das ist es. Mein Bär ohne Gegenwehr, ohne Fluchttrieb, ohne die Kraft, allen Leuten, die nicht ich sind, aus dem Weg zu gehen, sagt mir alles, was ich in diesem Moment wissen muss.

Ich streichle Dich, rede leise mit Dir, küsse Deine Stirn, wieder und wieder. Aber nicht zu viel, denn Du magst es nicht, wenn ich Dir zu sehr auf die Pelle rücke. Das Katzi liegt dösend neben uns. Es hat kaum aufgeschaut als die Ärztin kam. Die Maus war im Umgang mit Fremden immer so anders als Du.

In den letzten zwei Wochen ging es Dir immer schlechter. Du hast weiter mit Appetit gefressen, das ja. Aber Du suchtest nicht mehr so oft meine Nähe, hast viel geschlafen, meist in einem anderen Zimmer als dem, in dem die Maus und ich gerade waren. Die Tablettengabe wurde immer schwieriger, es war so deutlich, dass Du einfach keinen Bock mehr darauf hattest, zweimal täglich insgesamt fünf Präparate in sieben Einzeldosen runterzuwürgen. Immer öfter endeten meine beharrlichen Versuche vergeblich und ich bekam nicht alle Medizin in Dich hinein. Du hast Dich immer noch gefreut, mich zu sehen, von mir berührt zu werden, aber Dein Schnurren wurde zu einem heiseren Rasseln. Dein Gang wurde taumelig, einmal bist Du beim Dösen sogar umgekippt.

Und mein Herz wurde schwerer und schwerer. Qualvolle Tage der Entscheidungsfindung, in denen ich fast nur geweint und/oder mich betrunken habe. Die Hölle, das sind gar nicht die Anderen. Die Hölle ist, entscheiden zu müssen, dass jemand, der immer nur Freude gebracht hat, sterben soll. Die Haare hätte ich mir ausreißen mögen, die Haut zerkratzen, die Entscheidung hat mich fast zerrissen. Sonntag Abend wusste ich, dass alles vom nächsten Tag abhängt. Würdest Du einen guten Tag haben, würdest Du bleiben. Würde es ein schlechter Tag, würdest Du gehen. Mit diesem Wissen habe ich Dich und das Katzi von Sonntag auf Montag über Nacht in meinem Bett gelassen. Normalerweise habe ich Euch beide abends immer aus dem Schlafzimmer geworfen, damit ich in Ruhe schlafen kann. Aber Sonntag ging es Dir so schlecht, Du warst so matt und mir war klar, dass es womöglich unsere letzte Nacht wird. Deine letzte Nacht. In der ganzen Nacht hast Du Dich nicht einmal an mich gekuschelt, wie Du es früher bei meinen Nickerchen so gern gemacht hast, und als Du auch am Montag so matt warst, war alles klar.

Die Ärztin setzt die erste Spritze, die Dich einschlafen lässt. Es dauert nur Sekunden, bis Du schläfst. Dein Körper hat keine Reserven mehr. Danach kommt die andere Spritze. Die, die Dich von allem Leid, von der Atemnot, der Schwäche und vor allem den nervigen Tabletten erlösen wird. Es dauert. Herzpatienten halten oft länger durch als andere, sagt die Ärztin, die auf der Bettkante sitzt. Die Tabletten bauen das Herz so auf, dass es länger dauert, bis es aufhört zu schlagen. Zehn Minuten sitzen wir und warten. Streicheln Dich, ich kann nicht weinen. Noch nicht. Irgendwann nimmt sie das Stethoskop und bestätigt, dass es vorbei ist. Deine Augen werden milchig. Ich nehme Dich in meine Arme und einmal, ein einziges Mal in unseren gemeinsamen dreizehn Jahren kann ich Dich so fest knuddeln wie ich will. Meine Tränen fallen in Dein Fell, das über die Wochen dünn und struppig geworden ist.

Abschied am Nachmittag

Die Ärztin bringt ein Handtuch und wir legen Dich darauf. Jetzt steht das Katzi auf und geht zu Dir. Es schnuppert zuerst am Handtuch, das nach fremdem Waschpulver riecht. Dann schnuppert es an Dir, von Kopf bis Fuß. Wir lassen ihm den Moment. Bei aller Eifersucht, die die Maus so oft gegen Dich gezeigt hat, muss sie auch Gelegenheit bekommen. Ob sich zu verabschieden oder nur, um den fremden Geruch zu prüfen, weiß ich nicht. Aber sie bekommt die Gelegenheit.

Als wir wieder alleine sind, weine ich hemmungslos und das Katzi lässt sich fest an mich pressen. Auch da war sie immer ganz anders als Du, ihr kann es nie nah genug, eng genug, kuschelig genug sein. Zu viel Aufmerksamkeit, geht das überhaupt? Den restlichen Abend wirkt sie verstört. Sie schaut immer wieder nach der Stelle, wo Du zuletzt immer gelegen hast, wirkt nervös und schreckhaft. Sie darf immer noch die Nächte mit mir verbringen, weil wir beide Trost brauchen. Gestern Abend ist sie durch die Wohnung gelaufen und hat in jedes Zimmer geschaut, ohne hineinzugehen. Jetzt weiß sie, dass Du wirklich weg bist.

Du fehlst. Fehlst Du?

Nein, der Bär, der Du zuletzt warst, fehlt nicht. Der Bär, der mit der Diagnose kurz vor Weihnachten aufgehört hat zu existieren, fehlt. Und er fehlte mir seit damals jeden einzelnen Tag, nicht erst seitdem Du weg bist.

Dieser Bär war mein Seelenverwandter, ich spürte es seit unserem ersten Tag, als ich Dich in der Wohnung meines ehemaligen Mannes kennenlernte. Du warst trotz Deiner Größe und Kraft immer scheu. Kuscheln ja, aber immer nur, wenn Du bereit dazu warst. Körperliche Berührung schön und gut, aber irgendwann muss auch mal gut sein. Füße waren aber okay. Eine unabhängige kleine Persönlichkeit warst Du, Du hast entschieden, wer an Dich ran darf und wer nicht. Auch ich brauche viel Zeit zum Alleinsein, auch mir werden Umarmungen irgendwann zu viel, auch ich bin knauserig mit den Menschen, die ich in mein Leben hineinlasse. Wie hätte ich mich nicht in Dir sehen können?

Füße okay.

Es ist nicht verwunderlich, dass das Verhältnis zwischen Dir und dem Katzi immer eher gleichgültiger Distanz als echter Zuneigung entsprach. Ihr habt selten miteinander gekuschelt, so selten, dass ich fast immer sofort ein Foto gemacht habe, wenn ich Euch dabei ertappt habe. Vielleicht hat die Maus auch gespürt, dass Dich und mich etwas verband, das es zwischen ihr und mir nicht gab. Ein wortloses Verstehen, eine liebevolle Akzeptanz, ich habe Dir Deinen Raum immer gegeben, habe Dich nie zum Kuscheln genötigt oder Deinen Hang zur Distanz persönlich genommen, bin Deiner allgemeinen Enttäuschung über das Leben im Allgemeinen und die schlechteste Mutter von der Welt im Besonderen immer nur mit Liebe begegnet. Du hattest immer diesen verständnislosen Ausdruck im Gesicht, als würdest Du Dich fragen, womit Du all die Zumutungen des Lebens mit dem Katzi und mir verdient hast. “Was soll das denn jetzt?” als Lebenseinstellung. Ich kann die Tage nicht zählen, an denen ich über diese Verständnislosigkeit einfach lachen musste. Für die Freude und Liebe, die Du in mein Leben gebracht hast, habe ich keine Worte.

Unsere Zeit ist abgelaufen, mein geliebter Bär. Nicht erst am Montag, sondern vor Weihnachten. Rechtsseitiges Herzversagen. Was für ein brutaler Name. Alles von da an war geliehene Zeit. Jeden guten Tag, jeden guten Moment, in dem Deine alte Persönlichkeit noch einmal durchblitzte, habe ich genossen. Wenn Du Dich beim Nickerchen noch einmal an meinen Rücken gekuschelt hast wie eine lebendige Heizdecke. Wenn Du bei den ersten Sonnenstrahlen dieses Jahres auf den Balkontisch gesprungen bist, um meine frisch ausgetriebenen Erdbeerpflanzen zu essen. Wenn Du Dich noch einmal auf den Rücken gewälzt und gebrezelt hast, damit ich Deinen Bauch durchrubbele (ABER NICHT ZU LANGE, MUTTER!). Wenn Du meine Aufmerksamkeit eingefordert hast. Wenn Du mich ausgezankt hast, weil ich Dir mal wieder irgendeine Zumutung von Essen vorsetze. Du warst ein so mäkeliger Esser und auch darin glichen wir uns.

Du warst mein bester Freund. Vermutlich klingt das für andere etwas seltsam, aber Du und ich, wir wissen, wie es gemeint ist. Und dass mich das zum Klischee einer crazy cat lady gemacht hat, war mir auch egal. Du und ich, wir wussten immer, was uns verbindet. Und das war wichtiger als alles andere. Ich danke Dir für jeden einzelnen Tag, an dem Du mein Leben leichter, fröhlicher und in schweren Zeiten auch erträglicher gemacht hast. Danke für Dein Vertrauen, für das Privileg, von Dir gemocht zu werden. Ich liebe Dich, und wenn ich mir eines wünschen dürfte, dann, dass Dein Vertrauen in mich, Dein Wohlbefinden bei mir auch in Deinen letzten Augenblicken bei Dir war.

Und jetzt entschuldige mich, ich muss mir mal mit dem Katzi die Nase putzen.

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3 Kommentare

  1. Liebe Meike,
    ich habe einige Tränen vergossen beim Lesen deines Beitrag indem du beschreibst was euch verbunden hat und wie euer gemeinsames Leben war. Ich wünsche dir dass du die Trauerarbeit gut leisten kannst und den Schmerz so gut es geht verkraftest und dass er bald leichter wird.

    Alles Liebe, Simone

  2. Wunderschön geschrieben, Deine Requiem für diesen so besonderen Katz. Ich fühle mit Dir, in Gedanken bei meinem Lumpentiger der auf eine andere Art ebenso besonders und mir ebenso Seelengefährte war wie Dein Bär Dir.

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