Isolationshaft

Wenn ich einen Raum mit Menschen betrete, nehme ich immer “Ihr” wahr, niemals “Wir”. Die Geborgenheit einer Gruppe kenne ich nicht. Ebensowenig Entscheidungen, die mit der Rückendeckung eines Kollektivs getroffen wurden. Solange ich denken kann, habe ich mich immer isoliert gefühlt, und den weit größeren Teil meines Erwachsenenlebens habe ich allein verbracht. Keine Beziehung, kaum Sozialkontakte.
Das Konzept einer besten Freundin ist mir weitgehend fremd. In Hannover gab es mal eine Frau, der ich mich sehr nahe fühlte, aber nach drei Jahren lernte sie einen Mann kennen, was der Anfang vom Ende unserer Freundschaft war.
Die Wahrheit ist: Ich bin völlig inkompatibel mit den Menschen.

Ich weiß nicht, warum das so ist, aber es begann schon in der Schule; meine Mitschüler verstanden nicht, was ich sagte, was mich interessierte, worüber ich sprechen wollte. Und ich verstand sie auch nicht. Es lagen Welten zwischen uns.
In meinem Zeugnis aus der 5. Klasse steht: ‘Meike ist oft zu ernst, anstatt den Spaß der anderen mitzumachen’.

Das, was andere Menschen als Spaß empfinden, langweilt, nervt oder stresst mich in den meisten Fällen. Manchmal ängstigt es mich auch. Auf Massenveranstaltungen fühle ich mich unwohl. Eine Massenveranstaltung ist für mich alles mit mehr als sechs Menschen. Aus dem Grunde nehme ich Partyeinladungen nur alle fünf Jahre einmal an. Ungefähr. Aus dem Grunde sind auch Facebook-Einladungen an mich verschwendete Internettinte. Ich gehe nie zu Facebook-Einladungen. Nie.
Einladungen führen unweigerlich zu Smalltalk-Situationen und die sind für mich inakzeptabel.
Klar, jeder behauptet, Smalltalk nicht zu mögen, aber trotzdem muss man sich dann auf diesen Parties von den ganzen fremden Leuten Fragen wie “Und? Was machst Du so?!” entgegenbrüllen lassen (wegen der Lautstärke der zweifellos unerträglichen Musik, die bei so etwas immer gespielt wird).

Ich kann das nicht. Und ich kann auch nicht so tun als ob.
Ich kann auf einer Party über meine Kindheit sprechen, über den Tod meines Vaters, den ich 2009 hautnah miterleben musste, darüber wie einsam und angreifbar ich mich inmitten einer Gruppe Menschen fühle. Aber ich kann nicht lächeln und darüber sprechen, “was ich so mache”. Mit Ausrufezeichen, wegen der lauten Musik. Und erst recht kann ich nicht zurückfragen, denn es interessiert mich überhaupt nicht, “was der andere so macht”. Fragezeichen, Ausrufezeichen.
Was ihn schmerzt, interessiert mich. Worunter er leidet. Wer er ist. Ob er sich selbst kennt. Wie er sich im Inneren fühlt. Ob er glücklich ist. Und wenn er unglücklich ist, warum er unglücklich ist. Ich möchte in medias res, alles andere empfinde ich als vergeudete Lebenszeit.
Und da geht’s schon los. Die meisten Menschen, die ich in den letzten Jahren so kennengelernt habe, wollten das gar nicht sagen. Wie es ihnen geht und warum sie unglücklich sind. Sie wollten nicht nach innen sehen. Und da mich oberflächliche Informationen nicht interessieren und ich auch nicht so tun kann, als wäre es anders, schaue ich dann einfach betreten auf einen Punkt möglichst am anderen Ende des Raumes und schweige.
Trompeten erklingen dabei, ein Engelschor schwebt durchs Zimmer und jubiliert “Awkward situaaaaation!”

Ich kann mich nicht in den Menschen wiederfinden. Die meisten Frauen empfinde ich als entsetzlich banal, die meisten Männer als erschütternd unreif. Liebe und Freundschaft haben ja aber viel mit einem Spiegelbild zu tun, damit, sich mit jemand anderem identifizieren zu können. Man erkennt sich selbst in dem anderen wieder, mit allen Stärken und Schwächen, und merkt, dass man trotzdem gemocht wird. Man gründet die kleinste Herde der Welt. Du und ich gegen den Rest der Welt.
In meinem Leben gab es bis auf lächerlich kurze Momente niemanden, mit dem ich gegen den Rest der Welt kämpfen wollte. Ich kämpfte gegen den Rest der Welt.

Ich fing also an, mich mehr und mehr zurückzuziehen, weil mir alles besser erschien als meine Zeit mit Worthülsen zu verschwenden. Und weil ich nicht an Kompromisse glaube.
Das war für eine ziemlich lange Zeit okay, ich kannte das ja nicht anders. Von klein auf habe ich alleine gespielt, alleine gearbeitet und meine Tage mit Dingen gefüllt, die mir sinnvoll und beruhigend erschienen. Ich lernte, meine Entscheidungen ohne Rücksprache mit anderen zu treffen. Ich zog mich zurück in die Dinge, die mir Spaß machten. Ich suchte mir Substitute, mit denen ich mich identifizieren konnte. Filme meist und Bücher und Musik. Geborgenheit fand ich in der Stille, in der Sicherheit meiner Wohnung, in der Illusion von Selbstbestimmung.
Ich lernte meine Stärke kennen, mein Rückgrat und habe bis heute keine Angst vor eigenverantwortlichem Handeln.

Aber es ist ja nicht das bestgehütete Geheimnis der Welt, dass Menschen dazu neigen, Andersartigkeit nicht zu akzeptieren. Ich bekam fortwährend “Empfehlungen”, wie ich mein Leben leben sollte. “Geh doch mal mehr raus!”, “Du musst Dich den Menschen öffnen!”, “Du musst lernen, Kompromisse einzugehen!”. Mach dies, mach das. Du musst.
Obwohl ich durch meine Art niemanden belästigte, zeigten mir die anderen überdeutlich, dass es nicht okay war. Wer ich war. Wie ich lebte. Inakzeptabel.
Ich zog es vor, auch weiterhin keine Kompromisse einzugehen und mich noch mehr zurückzuziehen.

Und als ich Ende August 2009 anfing, mir mit einem Mann Emails zu schreiben, da erwartete ich nichts mehr. Von dem Gedanken, irgendwann den Richtigen zu finden und eine Mutter zu werden, hatte ich mich schon vor langer Zeit verabschiedet. Ich glaubte also zu wissen, wie es enden würde: wir würden vermutlich ein paar Wochen miteinander verbringen, bis er mir schließlich erklärte, dass ich zu seltsam, zu kompromisslos und zu inakzeptabel sei. Insgesamt betrachtet.
Doch dann kam alles ganz anders. Nach der ersten Nacht blieb er einfach. Erst noch eine Nacht, dann noch eine und dann viele weitere. Wurde mein Geliebter, mein Freund, mein Verbündeter, mein Beschützer. Mein “Du und ich gegen den Rest der Welt”.

Keine Kompromisse. Nicht ein einziges Mal. Nicht, weil er nur macht, was ich will. Sondern weil er der ist, auf den ich mein ganzes Leben gewartet habe.

Der mich liebt – nicht obwohl ich so bin wie ich bin, sondern weil ich so bin wie ich bin.

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26 Kommentare

  1. Das ist so schön. Und auf einmal ist dann alles genau so, wie es eigentlich immer hat sein sollen. Man hatte das einfach nur irgendwann vergessen, dass es eben so sein kann.

    (kenne ich auch).

  2. (( ; Ich wusste, dass der Herr Lobo keinen Müll empfiehlt.
    Guter Text!
    Mir ging es ähnlich. Und als ich mit Anfang 30 beschloss, keinen Alkohol mehr zu trinken, ertrug ich Menschenansammlungen überhaupt nicht mehr.
    Vorher konnte ich nach ein, zwei Bier wenigstens noch Interesse heucheln.
    Danach war ich die totale Spassbremse, stellte immer die falschen Fragen, interessierte mich weder fürs neue Haus, Auto oder den Urlaub in was weis ich wo.
    Also blieb ich weg.
    Als ich 36 war, fing ich einen Briefwechsel mit einer ehemaligen Ausbilderin von mir an.
    Als ich 37 war (1988) taten wir uns zusammen.
    Wir sind es noch.
    Keine Kompromisse!
    (meistens)
    (( ;

  3. das was du schreibst, kenne ich gut.

    schon als kind hing ich immer in meinem zimmer, habe gemalt, gezeichnet, gelesen, musik gehört.. alles, nur nicht mit anderen kindern im sandkasten gespielt. da bin ich nämlich nach spätestens 30 minuten heulend und beleidigt abgezogen.. :D

    deshalb waren wir sogar mal bei ner “heilpraktikerin”, weil meine eltern wollten, dass ich mehr rausgehe, mit gleichaltrigen spiele und so weiter, und so fort.

    leidensdruck hatte ich nie.
    auch smalltalk kann ich betreiben, obwohl es mir nichts bringt.

    das lustige ist, dass ich meistens mit 15-30 minuten smalltalk mit ner person klarkomme, zwar als arrogant angesehen werde, aber wenn man mich schließlich kennt, weiß man, dass man mit mir über ALLES reden kann. keine sinnlosen worthülsen, sondern wirklich probleme und lösungen, die welt im allgemeinen und im speziellen, kunst, kultur.. alles mögliche.

    aber es ist schon schwer, den leuten erstmal verständlich zu machen, dass man kein problem mit ihnen hat, wenn sie kein problem mit MIR haben und mich aktzeptieren können, auch ohne “oh, schönes wetter” – “ach, der mutter gehts gut, und selbst?!”

  4. Ich kann der Frau Elise nur zustimmen und etwas unoriginell wiederholen, wie schön das ist.

  5. Danke! Oft und seit langem bin ich innen recht einsam, aber habe den Richtigen an meiner Seite und manchmal sind wir es auch gemeinsam – einsam! Zumal in Gruppen. Das ist nicht schlimm, mitunter ein wenig belastend, weil unakzeptiert, aber so ist es das Leben. Egal, dein Text war schön, hat leicht gemacht in einer Empfindung die nicht so sehr viele teilen können, weil meist die Banalität sie bewegt. Ich war gerührt. Merci.

  6. […] Isolationshaft – Fuck you, I’m human. «Und da mich oberflächliche Informationen nicht interessieren und ich auch nicht so tun kann, als wäre es anders, schaue ich dann einfach betreten auf einen Punkt möglichst am anderen Ende des Raumes und schweige. Trompeten erklingen dabei, ein Engelschor schwebt durchs Zimmer und jubiliert “Awkward situaaaaation!”» […]

  7. “Was ihn schmerzt, interessiert mich. Worunter er leidet. Wer er ist. Ob er sich selbst kennt. Wie er sich im Inneren fühlt. Ob er glücklich ist. Und wenn er unglücklich ist, warum er unglücklich ist. Ich möchte in medias res, alles andere empfinde ich als vergeudete Lebenszeit.”

    Ich weiß genau, was du meinst.

    Small Talk ist eine Wüste aus langweiligen Worten, die man durchhalten muss, um endlich zur Oase der wirklich interessanten Themen zu gelangen. Viele Menschen haben so viel Angst oder sind so von ihren Gefühlen abgeschnitten, dass sie nie zu den interessanten Themen vorstoßen. Ich langweile mich auch sehr oft in Gesprächen – vor allem, wenn das Gegenüber nur sein frisch poliertes Ego vor sich herträgt: “Schau nur, wie klug, kompetent ich bin”. Ich möchte das dann gern abkürzen: “Ja, du bist ganz toll. Können wir jetzt über etwas Interessantes sprechen? Wovor hast du z.B. Angst?”

    Aber dennoch geht es mir gut. Wahrscheinlich, weil ich – wie du – meinen Seelenpartner gefunden habe. Und weil ich zwei tolle Töchter habe.

    Wenn ich deine Texte lese, nehme ich einen tiefen Schmerz wahr. So eine Art Bockigkeit. Etwas Abgeschottetes, Wütendes, Renitentes. Das rührt mich, macht mich traurig und neugierig.

  8. …find mich gerade ziemlich doll wieder in Deinem Text…und…eine ganz tolle Liebeserklärung an Deinen Mann…
    :)

  9. Weiß schon nicht mehr, wie ich auf diesen Blog gestoßen bin, aber selten so gute Texte gelesen. Und dieser passt ganz besonders. Danke.

  10. Danke für den Text – ich konnte mich sofort einfühlen.
    Ich glaube, dass die Dinge von denen Du schreibst, viele Menschen so erleben, sich aber nicht trauen, es so auszudrücken.
    Obwohl ich Dich gar nicht kenne, behaupte ich dass Du eigentlich ein ganz normaler Mensch mit ganz normalen Gefühlen bist. Nur vielleicht etwas couragierter als andere.

  11. Fuck you, you are not human, you are an Asperger wie er im Bilderbuch steht. Meine Freundin ist genau so und die Beste auf der Welt. Und jeden Satz, den du geschrieben hast, nickt sie, neben mir sitzend, schweigend ab. Keine Sozialkontakte, kein Small Talk, eben alles, was dazugehört. Also: Lebe lang und in Frieden, du Vulkanierin

  12. Schöner, starker Text. Ich werde auf ihn in meinem Blog aufmerksam machen – so Du nix dagegen hast :-). Alles Liebe und Gruss. Peter

  13. bist nicht die einzige. kennst du das buch “die wand” von marlen haushofer? der film von julian pölsler läuft grad, der illustriert das auch alles ganz prächtig. allerdings auf österreichisch – mit viel recht abweisender landschaft und schlechtem wetter…

  14. Chapeau, auch mir sprach’s aus der Seele, dennoch: Seltsame virtuelle Gemeinschaft von Solipsisten, die wir hier kommentierend bekennen. Wo wir einander doch, so wir uns real life begegneten, vielleicht erkennen, aber oft genug scheuen würden.

  15. Richtig stigmatisiert wurde ich vor vielen, vielen Jahren durch den sinngemäßen Satz im Abizeugnis: “C. muss sich ernsthafter zu unerem Arbeiter-und-Bauern-Staat bekennen” (oder so ähnlich jedenfalls) – alle ernsthaften Studienwünsche ge”cancelt” – und dann hat dieses schrecklich Wort noch einmal zugeschlagen: 1996, als drei Jahre mit dem “DU gegen den Rest der Welt” nach dreimonatigem Kampf zu Ende waren.

  16. Bin auf dieser Seite gelandet, weil ich
    “fuck you” gegooglet habe. Vieles was Du geschrieben hast empfinde ich auch so.
    in meinem Leben war ich jedoch immer kontaktfreudig…das war früher.

    Ich freue mich für Dich, dass Du Deine große Liebe gefunden hast. EGAL was auch geschieht
    halte sie immer fest denn es gibt sie nur einmal im Leben, für viele jedoch niemals.

    Auch ich habe vor 15 Jahren meine große Liebe
    gefunden.
    Alles auf eine Karte, alles riskiert,
    gewonnen! XD !!!

  17. Bin durch Zufall auf Deiner Seite gelandet…

    In einigen Dingen sind wir uns recht ähnlich. Oberflächlichkeit nervt mich auch tierisch beziehungsweise ich kann damit einfach nichts anfangen.

    Den “Mann für’s Leben” habe ich leider noch nicht getroffen, aber wenigstens habe ich jetzt wieder ein kleines bisschen mehr Hoffnung ;-).

    Alles Gute für Dich!

  18. Nun bin ich so alt geworden und hatte gedacht, allein mit diesen Gedanken und Gefühlen zu sein.
    Erleichtert bin ich, Danke

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