Lob der persönlichen Krise

Krisen werden allgemein als etwas Negatives empfunden, als Verschlechterung, dabei bedeuten sie vor allem eins: Veränderung.

Krisen haben einen schlechten Ruf, niemand will freiwillig eine Krise durchmachen, Krise bedeutet Schmerz, Angst, Trauer. Doch Zeiten, in denen man aus welchen Gründen auch immer auf dem Nullpunkt seines Lebens steht, sind so viel mehr als das. Sie beinhalten das Potential für Wachstum, emotionale und intellektuelle Reifungsprozesse, die nachdem man sie konstruktiv verarbeitet hat, bewirken, dass es einem nach der Krise sogar besser geht als vorher.

Das griechische Wort crisis bezeichnet weniger eine Katastrophe als vielmehr einen Wendepunkt, nach dem es sowohl besser als auch schlechter weitergehen kann. Erst der allgemeine Sprachgebrauch machte aus einer Krise ein vollkommenes Schreckgespenst, was daran liegen dürfte, dass besagter Wendepunkt in der Regel mit dem Zusammenbruch eines bisherigen Systems einhergeht. System meint hier ausnahmsweise einmal nicht den hierarchischen Staat oder den ausbeuterischen Kapitalismus, sondern das Set aus Werten, Identitätsfaktoren, Überlebensstrategien, das jeder Mensch in sich trägt. In der Medizin gilt die Zeit der schwersten Symptome bei fiebrigen Infektionskrankheiten als Krise, nach der bei günstigem Verlauf rasch eine Besserung eintritt. Bevor man also in den Genuss der Vorteile einer persönlichen Krise kommt, muss man also das Tal der Tränen betreten.

Man kommt an einen Punkt, an dem das bisherige Leben nicht mehr trägt und Überlebensstrategien nicht mehr helfen. Auslöser können sowohl von außen, etwa in Form einen Schicksalsschlages, als auch von innen, aus einem selbst kommen. Bei äußeren Ereignissen kann die Krise einen in jedem Alter treffen, bei Auslösern von innen gibt es eine Häufung in der zweiten Lebenshälfte – die so genannte Midlife-Crisis. Ein Blick auf die Welt, der sich im Laufe der Zeit verändert, Erkenntnisse über eigene Bedürfnisse, abnehmende Gefühle für den Lebenspartner: Man kann das alles eine Weile in Schach halten, aber irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem sich die Entwicklungen verselbstständigen, und dann kracht alles zusammen.

Bei Null anfangen

Wie ich in meinem Text über Online-Dating bereits angedeutet habe, wurde meine Krise von dem Ende meiner Beziehung eingeläutet, das mit einer Panikattacke begann und sich über zwei Jahre hinzog. Doch obwohl ich die Panikattacke und den nachfolgenden Grübelzwang als sehr schlimm empfand, erreichte ich meinen persönlichen Tiefpunkt erst, nachdem mein damaliger Mann aussprach, was wir beide seit langem wussten und fürchteten, nämlich dass es nicht mehr geht. Glücklicherweise befand ich mich zu dem Zeitpunkt noch in therapeutischer Behandlung, die ich wegen und des Grübelzwangs begonnen hatte.

Diese Partnerschaft war zehn Jahre lang alles für mich. Ich war über viele Jahre angstgestört, ohne es zu wissen, und meine Ehe wurde zum einzigen Refugium, das ich hatte. Dass ich es trotz der Erkrankung schaffte, mein Buch “Female Choice” zu schreiben, lag daran, dass mein damaliger Mann genug für uns beide verdiente. Die finanzielle Abhängigkeit gab mir einerseits Freiraum, beruflich einen neuen Weg zu gehen, war aber andererseits eine – nunja – Abhängigkeit. Die Trennung war für mich sowohl aus emotionalen als auch wirtschaftlichen Gründen ein absolutes worst case scenario. Mein Exmann hatte mich darum gebeten, nach der Scheidung seinen Nachnamen abzulegen, und auch, wenn ich wusste, dass er mich rechtlich nicht dazu zwingen konnte, willigte ich ein, weil ich keinen Streit wollte.

Ich stand also da, stripped naked, wie man so schön sagt. Alles, was mir seit Jahren Identität gegeben hatte, war weg. Der Name war weg, die Wohnung würde ich verlassen müssen, mit Wegfall des Namens und der Reichweite meines Exmannes schwanden auch die Erfolgsaussichten mein Buch betreffend. Würde ich es als Autorin schaffen, ohne seinen regelmäßigen publizistischen Rückenwind?

Nullpunkt. Schöne Scheiße. Ich stand vor dem Nichts, trank regelmäßig harten Alkohol und weinte jeden Tag.

Wer bin ich? Wer bin ich als Frau, als Mensch, als Individuum? Nach meiner sehr symbiotischen Beziehung hatte ich keine Antwort auf diese Fragen. Ich wusste nicht, wer ich ohne ihn war. Mein Leben war ohne Form und Kontur, ich blickte mit einem Stück Kreide in der Hand vollkommen ratlos auf eine leergewischte Tafel.

Dank meiner Therapeutin, die den Prozess von der ersten Panikattacke an begleitet hatte, fand ich den Mut, einen anderen Blick auf mich und mein Leben zu werfen. Aus “Wer bin ich?” und “Was ist mein Leben ohne ihn?” wurden “Wer will ich sein?” und “Welches Leben will ich führen?” Ich musste tief in mich hineinhorchen, musste meinen eigenen inneren Rhythmus finden, musste mich selbst (wieder-)finden. Und dann erkannte ich, was für ein Geschenk es ist, mit einem Stück Kreide vor einer leeren Tafel zu stehen.

Denn ich durfte nicht nur diese, sondern viele weitere Fragen ganz egoistisch beantworten. Ohne irgendwelche Kompromisse, ohne Angst zu haben, dabei einen anderen Menschen zu verletzen, ohne mich anpassen zu müssen. Ich durfte losrennen – etwas, das ich mir seit zwei Jahren nicht erlaubt hatte. Ich durfte die Frau freilassen, zu der ich geworden war, die ich aber aus Angst, meiner Beziehung damit endgültig den Todesstoß zu geben, zwei Jahre lang im Keller eingeschlossen hatte.

Das wäre nicht möglich gewesen, wenn mein Leben nicht bis auf den letzten Stein zusammengebrochen wäre.

Ich will nicht lügen: Nicht alles hat sich zum Besseren verändert, vor allem meine wirtschaftliche Situation, denn natürlich fehlt die publizistische Unterstützung meines Exmannes. Aber die Möglichkeit, authentisch zu leben, ganz ich sein zu können, ist für mich extrem wertvoll. Und das hätte ich nicht erreicht, wenn mein Leben sich nicht in diesen Trümmerhaufen verwandelt hätte. Rückblickend bin ich dankbar für die Krise, weil sie genau das war, was mein Leben brauchte: ein Wendepunkt.

Und das ist dann vielleicht auch das, was Krisen so schwierig macht. Man kann ihren Wert nur rückwärts erkennen. Man kann den Kipppunkt des eigenen Lebens nicht gelassen auf sich zukommen lassen und “Ach, endlich ist er da, ich freue mich schon drauf, stärker und ausgeglichener aus ihm hervorzugehen” sagen. Am Anfang fühlt es sich nur nach Zusammenbruch an, nach dem Verlust von allem, was uns Stabilität gibt.

Aus der Sicht unseres Gegenwarts-Ichs ist das bedrohlich, überfordernd und ungeheuer schmerzhaft. Aber der Nullpunkt einer Krise ist auch ein Anfang. Vor allem, wenn man ihn mit therapeutischer Unterstützung durchlebt. Eine Krise kann zu mehr Wahrhaftigkeit führen, zu einer Besinnung auf sich selbst und eine Verwirklichung von dem, was einem wichtig ist.

Und in diesem Potential liegt etwas Positives. Es ist Ausdruck sowohl einer menschenfeindlichen Arbeitswelt als auch der vermeintlichen Alternativlosigkeit der heilen Paarbeziehung, dass wir oft erst alles verlieren müssen, um wachsen zu dürfen. Um uns die Erfüllung von Bedürfnissen zuzugestehen, die wir uns aus unterschiedlichen Gründen zu lange versagt haben. Weil diese Strukturen relativ veränderungsavers sind, sie halten individuellen Wandel nur in begrenztem Maß aus.

Vielleicht kann die Frage, warum das so ist, einen ersten Schritt darstellen, um zu einer Welt zu kommen, in der das Wort Krise nicht nur den Teil auf der negativen X-Achse abbildet, den Verlust, sondern auch den auf dem positiven Teil, den Gewinn. Damit wir Krisen nicht nur als Bedrohung sehen, sondern als Schritt auf dem Weg zur inneren Ruhe. Denn genau das sind Krisen: Chancen.

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3 Kommentare

  1. “Du bist in einer Krise. Herzlichen Glückwunsch” (Anastasia Umrik) Danke, Meike, für diesen Text. Eine Neubewertung von “Krise” ist wirklich wünschenswert. Mein Alkoholkonsum hat sich in der ersten Hälfte meiner Krise auch verstärkt, bis ich ihn komplett verabschiedet habe. Eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Sie hat lange gebraucht.
    Umriks Text geht u.a. auch noch auf den Vergleich mit anderen Menschen und Neidgefühle ein.
    Es gibt bestimmt auch Unterschiede in der Heftigkeit von Schicksalsschlägen und Krisen: der Tod des eigenen Kindes oder gar der ganzen Familie, die bei einem Unfall stirbt, eigene MS- oder Krebserkrankung u.ä. Deren wünschenswerte Bewältigung braucht im Allgemeinen wahrscheinlich mehr Arbeit als eine Trennung.
    Was mir gerade so beim Schreiben auffällt: ich hatte auch eigenfinanzierte Psychotherapie, Coachings am Arbeitsplatz, lese Ratgeber (Bücher, Blogs). Was ist eigentlich mit den Menschen in einer Krise, die das alles nicht haben oder machen, weil sie kein Geld haben oder nicht lesen oder keinen Zugang finden?

    • “Was ist eigentlich mit den Menschen in einer Krise, die das alles nicht haben oder machen, weil sie kein Geld haben oder nicht lesen oder keinen Zugang finden?”

      Du hast Recht, es gibt Abstufungen von Krise und genug Gründe, weshalb selbst Menschen, die Hilfe wollen, keine finden. Was ich aber viel öfter sehe, ist, dass Menschen sich keine Hilfe holen, weil sie glauben, sie bräuchten sie nicht. Weil sie Dinge lieber “mit sich selbst ausmachen”. Weil sie glauben, die Symptome seien noch nicht schwer genug. Oder weil sie ein Mann sind. Das meine ich nur halbironisch, denn unter Männern ist dieses “Ich brauch das nicht” wirklich sehr stark ausgeprägt. Die Symptome halten sie unter dem Deckel mit exzessivem Sport, Flucht aus der Familie oder eben Substanzmissbrauch.

  2. Hallo Frau Stoverock,
    lese viel. Fand ihr Buch und verschlang es. Empfehlung von Virginia Woolfe “one’s own room”.
    Habe immer in der zweiten Reihe gelebt. Etwas Klavier, Chor und Zeichnen nach 16 Uhr half.
    Sehr viel ist reduzierbar auf Schwächere, die von Stärkeren geschützt werden. In meinem Fall von Frauen!
    Danke., Felix Paetzold

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