Ein Kind, sie zu beschämen

Warum ich es richtig finde, in den Medien ein totes Kind zu zeigen

Ich kenne die Argumente dagegen, ich habe sie in der Vergangenheit oft genug geteilt, zuletzt in meinem Artikel “Die verlorene Ehre der scheibenden Zunft”. Der Opferschutz, die Pietät, der Sensationsjournalismus, die trauernden Anverwandten. Ich kann die Gründe alle nachvollziehen und unter anderen Umständen würde ich ihnen zustimmen, ebenso wie dem klugen und behutsamen Kommentar von Stefan Plöchinger auf sueddeutsche.de. Es mangelt mir also nicht an Empathie, Einsicht oder Argumenten, um vom Gegenteil überzeugt zu werden, weshalb ich bitte, für den Moment davon abzusehen, mir die Dinge, die ich in obigem Artikel selbst aufschrieb, reflexartig empört in das Kommentarfeld zu tippen.

Als ich das Foto der kleinen Kinderleiche gestern Morgen zum ersten Mal gesehen habe, ging es mir wie den meisten aus meiner Filterblase: mein ganzer Körper krümmte sich unter dem Mitgefühl, ich spürte Schmerz und dachte im ersten Moment “Müssen die Medien mir das antun?” Doch nach längerem Nachdenken kam ich zu dem Schluss: ja. Sie müssen.

Tragisches Unglück vs. Strukturelle Ursache

Wenn jemand bei einem Unfall, einem Verbrechen oder durch eine Krankheit ums Leben kommt, dann sollte kein Medium Bilder davon abdrucken, egal in welchem Kontext. Auch Informationen über die Familie oder das Plündern des Facebook-Accounts nach weiteren Fotos bringen in den seltendsten Fällen einen so großen Mehrwert für die Bevölkerung, dass sie die rücksichtslose Leichenfledderei der Medien rechtfertigen.

Doch hier geht es nicht um einen Unfall oder eine Krankheit. Das Kind ist gestorben wegen struktureller Ursachen, die nicht auf individueller, sondern auf politischer, staatlicher, globaler Ebene liegen.
Die Flüchtlingskatastrophe, die sich gerade vor unser aller Augen im Herzen Europas abspielt, ist keine spontane Laune, das ist auch keine Reisewelle von syrischen Sozialtouristen, die bald wieder vorbei ist, sie ist das Resultat einer jahrelangen Destabilisierung des Nahen Ostens, auf die der Westen in der Vergangenheit meist nur zwei Antworten hatte: entweder Krieg oder raushalten (Waffenlieferungen gingen natürlich weiter). Die Unterscheidung in Wirtschafts- und Kriegsflüchtlinge ist dabei hinfällig und nur ein vom Westen konstruierter Grund, um verzweifelten Menschen nicht helfen zu müssen.

An vielen Konflikten verdienen die westlichen Länder mehr oder weniger direkt, z.B. durch Waffenlieferungen, darüber hinaus sind arme Länder oft besonders anfällig für Unruhen und gewaltsame Auseinandersetzungen. Jemand, der nichts hat, hat auch nichts zu verlieren, und solche Menschen sind viel leichter zu verführen als diejenigen, die alles haben. Viele arme Länder sind außerdem in der Hand autoritärer, korrupter Regime, die das Volk unterdrücken und sich auf seine Kosten bereichern. Offiziell herrscht kein Krieg in diesen Ländern und nicht jeder Mensch ist ein politischer Aktivist, dessen Verfolgung auf der Hand liegt. Frei und in Sicherheit lebt die Bevölkerung in solchen Ländern dennoch nicht.
Wirtschaft und Krieg, Armut und Gewalt, das ist nicht so klar zu trennen wie Europa immer tut.

Verantwortung

Die grundsätzliche Ungleichverteilung in der Welt kam nicht vom Himmel gefallen, sie wurde u.a. erzeugt und noch wichtiger: dauerhaft am Leben gehalten und verstärkt durch die reichen Wirtschaftsnationen, die ihren Scheiß zur Gewinnmaximierung nur noch in Niedriglohnländern fertigen lassen. Diese Ausbeutung, die sie euphemisch Globalisierung nennen, weil das nach Vernetzung und Zusammenarbeit klingt, verhilft den großen Unternehmen zu immer schnellerem Wachstum, während die Produktionsländer mit ihrer in der Regel schlechteren Infrastruktur nur langsam hinterherkommen. Dass sie zudem nicht wie ebenbürtige Geschäftspartner angesehen und behandelt werden, sondern wie niedere Erfüllungsgehilfen, für deren Belange sich die westlichen Unternehmen kaum interessieren, solange die Kunden oder die Medien keine unbequemen Fragen stellen, hilft der Entwicklung dieser Länder ebenfalls nicht weiter.

Wir alle – Europa, Deutschland, aber auch jeder Einzelne von uns, der billig produzierte Güter kauft, obwohl er sich teurere leisten könnte (dazu muss ich auch mich selbst zählen, denn ich beginne gerade erst, meine Lebensweise den Notwendigkeiten anzupassen) – wir alle also helfen aktiv mit, diese Länder arm zu halten. Und wenn die Menschen dort, die längst wissen, dass der Besitz der Menschheit ungerecht verteilt ist, hierher kommen wollen, fällt uns nicht mehr ein als von mehr Abgrenzung und sicheren Außengrenzen zu faseln.
Der kleine Junge, drei Jahre alt, ist das Opfer eines strukturellen Geschwürs, das seit Jahrhunderten dazu führt, dass ein Teil der Menschen in Sicherheit auf einem unfassbaren Haufen von Reichtum und Privilegien sitzt, während der andere jeden Tag wegen Krieg oder Armut um sein Leben kämpfen muss. Der Tod des kleinen Aylan ist ein Symbol für die Scheinheiligkeit, mit der Europa die Konflikte der Welt durch Waffenlieferungen befeuert, an ihnen gut verdient und sich dann um die Verantwortung für die Folgen ihrer Exportschlager drückt.

Wir alle kennen den Abstumpfungseffekt, den man erlebt, wenn man zum x-sten Mal von soundsovielen Toten hört, die in einem Krieg, einer Katastrophe, einer Hungersnot oder einer Dürre gestorben sind. Worte – es tut mir leid, das zu schreiben – nutzen sich ab, Papier ist geduldig, egal wie man das nennen will: der Satz “Wurde in den frühen Morgenstunden die Leiche eines etwa dreijährigen Kindes an den Strand gespült” entsetzt und berührt nicht so sehr wie ein Bild davon.
In der ganzen Tragik dieses Bildes liegt etwas Ikonisches, etwas Aufrüttelndes, etwas, woran niemand vorbeisehen kann. Es gibt Bilder, die Menschen beschämen. Vergleichbar ist das etwa mit dem Foto der 8-jährigen Kim Phuk, die während des Vietnamkrieges nackt und mit vom Napalm verwüsteter Haut die ganze Perfidie dieses Krieges deutlich werden ließ. Ebenfalls in der SZ erschien gestern Abend ein umfassender Artikel über die Macht solcher Bilder.

“Wenn Du so ein Foto brauchst, um Mitgefühl zu entwickeln, dann stimmt etwas nicht mit Dir”

So oder ähnlich lauteten die zahllosen Sprüche in meiner Twittertimeline, dutzendfach getwittert, dutzendfach retweetet. Ich finde diesen Satz richtig, wer Tote braucht, um sein Mitgefühl anzuwerfen, ist emotional irgendwie problematisch unterwegs. Doch es sind eben genau solche Menschen, die den Flüchtlingen zusätzlich zum Trauma der Flucht das Leben schwermachen. Die Brandstifter in Deutschland, Publizisten wie Jan Fleischhauer, der bei SpiegelOnline vor der Idealisierung des Fremden warnt, Politiker wie die bayrische Sozialministerin, die einem Flüchtling vom Balkan begegnet und deren Einfühlungsvermögen einen auf den sofortigen Untergang der Menschheit hoffen lässt. Der ganze armselige Facebook-Mob, der für seinen Besitz mehr Sorge aufbringt als für ein Menschenleben.

Ich mag meine Timeline aus empfindsamen Menschen, die sich von der Welt berühren lassen und für die ein solches Bild zu viel ist, ich erachte diese Menschen als sehr wertvoll, aber – verdammt nochmal! – Ihr müsst endlich erkennen, dass es Leben außerhalb Eurer Filterblase gibt. Unempathische, besitzorientierte Leistungsträger, für die es tatsächlich einen Unterschied macht, ob sie nur vage wissen, dass Leid in der Welt existiert (das sie prima ausblenden können), oder ob sie dieses Leid sehen – und nicht ungesehen machen können. Menschen, die in der Vorweihnachtszeit erschrocken beim RTL-Spendenmarathon 20€ spenden, sich dann erleichtert in die Absolution sinken lassen und in ihre 99Ct-Bratwurst beißen. Menschen, denen Wohlstand und Macht wichtiger sind als Gerechtigkeit und Mitgefühl.
Es gibt Menschen, DIE.BRAUCHEN.SOLCHE.BILDER.

Und wenn das tote Kind dazu beiträgt, dass ein paar von ihnen aufwachen, anfangen nachzudenken und versuchen, nicht mehr Teil dieses sich selbst verstärkenden Problems aus Hass und Leid zu sein, dann ist viel gewonnen. Auch dank Bildern wie dem von Kim Phuk wurde der öffentliche Widerstand im eigenen Land gegen den Vietnamkrieg schließlich so groß, dass Präsident Nixon nichts anderes übrig blieb, als die Niederlage einzugestehen und die amerikanischen Truppen restlos aus Vietnam abzuziehen.

Der kleine Aylan zeigt uns, dass unser egoistischer, abschirmender Umgang mit einem Wohlstand, der auf dem Rücken von Menschen, die viel weniger haben als wir, entstanden ist, falsch ist. Denn in Wirklichkeit verdanken wir unseren Reichtum diesen armen Ländern, von denen wir jetzt nichts wissen wollen – den Männern, Frauen und Kindern, die unsere Luxusgüter fertigen oder die Rohstoffe dafür ungeschützt aus giftiger Brühe fischen.
Und ich finde, jeder, dem das nicht klar ist, sollte sich das Bild ansehen müssen.

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17 Kommentare

  1. Es gibt Menschen, DIE.BRAUCHEN.SOLCHE.BILDER.

    Ernsthaftes, unironisches Danke für das Aufrütteln und Klarmachen. Du hast absolut recht.

  2. Guter Text.
    Und: Du hast recht.

    Ich hoffe nur, dass die derzeitige “Euphorie” (unpassend, aber mangels eines besseren Wortes) länger anhält als andere (Netz)Aktionen der letzten Jahre.

    Denn es wird Jahrzehnte brauchen diese Menschen zu integrieren.
    Es werden zwangsläufig mehr Subkulturen entstehen. Traumata werden gemindert werden müssen. Sprachen gelernt. Unsere Gleichberechtigung erlernt (nicht, dass das “hier” schon jeder könnte…).

    Diese ganze Misere kann nun mal nicht durch das derzeitige Allheilmittel “Geld” gelöst werden. Und das sehe ich mit als größtes Problem. Und wir schaffen es noch nicht einmal mit Geld, die Menschen menschenwürdig unterzubringen.

    (Aus Bremen, wo man beidem zugucken kann: herzlich funktionierender und katastrophal schiefgelaufener Integration).

  3. Ich pflichte dir bei – ich habe für mich ähnliche Schlüsse gezogen, die solche Bilder zu einer Notwendigkeit machen.
    Danke für deinen Klartext!

  4. Ja, Nein, Vielleicht.

    Mich würde interessieren, ob solche Bilder nachweislich und nachhaltig Veränderungen bewirken. Also mehr als den empörten Aufschrei auf dem Sofa. Ist das wirklich so???
    Und wieviele Menschen beginnen dadurch wirklich umzudenken?

    Wenn dem so ist – so sollen sie solche Bilder zeigen – dann ist das ein Armutszeugnis für genau diese Menschen…
    Vielleicht war ich zu naiv zu glauben, dass wir ohne solche Bilder auskommen.

    • Ich glaube nicht, dass solche Effekte in harten Zahlen messbar sind. Vielmehr geht es um die öffentliche Meinung, um die Stimmung im Land, die dann wiederum – wie in Amerika während des Vietnamkrieges geschehen – Druck auf Politik und/oder Wirtschaft ausüben kann. Wenn genügend Menschen wütend werden über das tote Kind und die Ursachen, die zu seinem Tod geführt haben (und ich meine damit nicht verbrecherische Schlepperbanden, sondern die Tatsache, dass diese Menschen kaum einen legalen Weg nach Europa oder Nordamerika haben), dann entsteht vielleicht genug Druck, um die Politik zu verändern.
      Bei Scheiß-Pegida hat es nur 20.000 Menschen gebraucht, bis die Politik eingeknickt ist, davon sprach, die “besorgten Bürger ernst zu nehmen”, und schärfere Asylgesetze nicht nur forderte, sondern auch beschloss.

  5. Also “emotional irgendwie problematisch unterwegs” bin ich auf jeden Fall auch. Trotz des traurigen Themas empfinde ich Freude beim Lesen des Textes, weil ich ihn so gut auf den Punkt finde. Und dann auch noch, so ganz nebenbei, Fleischhauer-Bashing. Vielen Dank.

  6. ich brauche solche bilder nicht! kein mensch braucht solche Bilder!

    und allzu viel erbarmen hast du ja offenbar auch nicht für menschen oder gar die ganze menschheit, wenn du, nur weil jemand komplett daneben liegt angesichts einer nun mal mehr nicht einzuschätzenden situation, gleich der ganzen menschheit also auch mir den untergang wünschst und denen, denen du grad helfen willst.
    kannst du entweder ab und an mal deine wortwahl überprüfen oder deinen missmut ohne solche wünsche ausdrücken?

    wäre mir ganz recht.
    ich für meinen teil habe lernen müssen, dass ich unter umständen gar nicht helfen kann.
    nicht nur weil es mich in jeder hinsicht überfordern würde (psychisch, emotional) von meinen mitteln und möglichkeiten, die mir zur verfügung stehen, sowieso.
    oder weil menschen es schlicht nicht wollen, das hab ich auch schon be-merkt.
    oder ich ihre situation gar nicht wirklich ver-ändern KANN.
    ausser mich evtl. selbst aufgeben.
    das habe ich lange genug gemacht.
    was nicht heißt, dass ich an jedem vorbeigehe (ich wohne in berlin), da sieht man täglich hilfsbedürftige, oder mich nicht mehr mit menschen auseinander setze. und oft genug lösungen habe. oder einfach nur zuhöre oder eben was dazu sage.

    und insofern braucht auch kein mensch deinen ständig erhobenen zeigefinger, das ist, was ich dir sagen will.
    ich will für mich selbst ultima ratio sein und mir nicht von anderen sagen lassen, was ich tun soll. oder denken. auch nicht in dieser situation oder über diese situation.

    und ich werde jetzt nicht mit argumenten kommen, die mir evtl. als komplett herzlos etc pp. ausgelegt werden könnten, die hätte ich nämlich auch noch dazu.

    grüße

    p.s. rechtschreibüberprüfung geht nicht in dem textfeld.

    • > kannst du entweder ab und an mal deine wortwahl überprüfen oder deinen missmut ohne solche wünsche ausdrücken?

      Nein, bedaure. Weil ich im Moment bis obenhin angefüllt bin mit wut und Verzweiflung über die Verkommenheit der Welt, über Leute, die sagen “Ach, ich kann ja doch nichts machen”, um es gar nicht erst zu versuchen (damit meine ich nicht Dich). Ich kotze über jemanden, der SOZIALministerin ist und SO mit Menschen umgeht. Ich kotze über all die Heuchelei, all das “So ist die Welt nun einmal”, das Phlegma, den Selbstbetrug, die Lügen, nur um ungestört schlafen zu können.

      Wenn Dich mein erhobener Zeigefinger (der gar nicht erhoben sein, sondern nur auf das Elend zeigen will) stört, lies mich nicht.

  7. Ja, ich bin beschämt, aber nicht etwa das Kind hat mich beschämt, sondern der Umstand, dass Foto-Journalismus offenbar heutzutage keine moralischen Grenzen mehr kennt.

  8. Aus Beschämung ist strukturell schon lange kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Das ist leider so und es ist kein Ruhmesblatt für diese Epoche. Auch tote Kinder ändern daran nichts. Alle drei Sekunden stirbt ein Kind an Hunger, weil die Welt ungerrecht ist, Jean Ziegler erinnert einen daran, sobald man ihm ein Mikrofon hinhält.

    Ich dachte auch an das Foto aus Vietnam. Das war, aktionistisch gedacht, deswegen wirksam, weil es eine DIREKTE Folge der us-amerikanischen Angriffe war. Ursache und Wirkung liessen sich selbst von der übelstprofessionellsten PR-Firma nicht wegreden. Schön mal überlegt, warum das Thema “Schlepper” (inkl. diesem negativen Wording, man könnte sie ja auch professionelle Fluchthelfer nennen) benutzt wird? Weil damit der Zusammenhang gepuffert wird. “Es ist die schlimme Situation mit bösen Schlepper auf dem Mittelmeer.” sagt der entschärfende, ablenkende Politiker – und schon kann Sigmar Gabriel fordern, dass es Fähren über das Mittelmeer gäbe – und das Bild mit dem Kind am Strand hat sich erledigt (für viele).

    Verzweifelte Wut ist kein guter Ratgeber, aber es kann ein Brandbeschleuniger sein für ein Gegenfeuer, dass gebraucht wird, um die Brände, die durch die neoliberale Doktrin aufkommen, zu bekämpfen. Rage ist ein Werkzeug, ein meist grobes Werkzeug und deswegen von besorgten Demokraten immer ein wenig anrüchig betrachtet. Doch die moderne PR-beratene Politik kann auch Rage behandeln, hat sie schon x-mal gemacht in den vergangenen Jahrzehnten (es gab schon mehr Fotos wie das vom Strand). Ich empfehle die Lektüre von Naomi Klein Schock-Strategie. Es wird dir nicht gefallen.

    Also wie dann? Nun, ich sehe einen Lichtblick und er hängt zusammen mit der gerade stattfindenden positiven Mobilisierung (die auch durch das Foto verstärkt wird). Mit positiver Mobilisierung kann die moderne Abwehrstrategie der entwurzelten Politik nicht gut umgehen. Menschen, die nicht nur wissen, was sie nicht wollen, sondern auch wissen, was sie wollen – und zwar zügig.

    Yes, we’re Open! ist ein Signal, das von einer politischen Kraft, die nicht nur dem Flüchtlingselend, sondern auch den von dir beschriebenen globalen Strukturen einen Wandel entgegensetzt, genutzt werden könnte. Leider existiert diese politische Kraft in Deutschland nicht, weil alle ja so individuell sein wollen und sich dann “hilflos fühlen” und “überfordert” – die neoliberale Herrschaftsstrategie geht also völlig auf.

    Insofern wird das Foto, wenn es nicht, und ich sage das so deutlich, von den richtigen Kräften instrumentalisiert wird, verklingen. Sicher langsamer als manch anderes Elendfoto der letzten zwei, drei Jahrzehnte, aber es wird nichts erreichen, denn die positive Saat des Zorns fällt auf ausgetrockneten Boden.
    Wir müssen also erstmal den Boden bestellen, so wie es leider andere, nicht so nette Kräfte tun. Und ohne eine politisch-gesellschaftliche Bewegung, die explizit für einen zu benennenden Wandel steht, kommen keine Feldarbeiter.

  9. Das Mitleid ist eines der edleren Gefühle, deren der Mensch fähig ist , aber es ist eben nur das — ein Gefühl. Und Gefühle kommen und gehen, sind stärker sind schwächer, stumpfen ab, wenn sie ständig gereizt werden. Was bleibt, sind Zusammenhänge, Einsichten, Schlüsse und Entscheidungen.

    Menschen in Not muß man helfen, was sonst. Umstandslos, unbedingt, ohne Wenn und Aber. Aber, und jetzt halten Sie sich fest, nicht aus Mitleid.

    Sondern aus Gründen.

  10. Also in einem Beitrag fast Alles hinein zu bringen woran die Welt krank und die Wohlstandsgesellschaft wächst, finde ich sehr grandios und es war auch ein Genuss zu lesen. Ich weiss nun nicht mehr was eindringlicher war, das Bild oder dein Beitrag mit all den Fakten.
    Leider ist es jedoch so, dass sich die Menschheit, zumindest in unserem Leben nicht mehr ändern wird. Sowohl unfähig aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, als auch die Konsequenzen ihres Tuns für die Zukunft zu erkennen. Die Dummheit ist der grösste Feind gegen den es zu kämpfen gilt. Da kann man prima bei sich selbst anfangen und das Leben als ständigen Lernprozess begreifen. Aber genau diese Erkenntnis ist den meisten Menschen und ganz besonders denen mit konservativer Gesinnung fremd. Es sind auch jene die am lautesten nach Sicherheit und Abschottung schreien und damit meinen unsere Freiheit verteidigen zu können. Leider sind sie mit dieser Polemik, weil schön einfach, erfolgreich. Nicht umsonst gibt es die besagte Sozialministerin unter den Häuptlingen. :))
    Bei sich selbst anfangen und das Hirn einschalten und sein Umfeld dazu zu motivieren es gleich zu tun, ist ein guter Ansatz und würde allen Polemikern die Grundlage entziehen. Denn ohne diese wäre die Welt bedeutend entspannter.
    Ich stimme mit dir in Punkten konform.

  11. „Der kleine Junge, drei Jahre alt, ist das Opfer eines strukturellen Geschwürs, das seit Jahrhunderten dazu führt, dass ein Teil der Menschen in Sicherheit auf einem unfassbaren Haufen von Reichtum und Privilegien sitzt, während der andere jeden Tag wegen Krieg oder Armut um sein Leben kämpfen muss. “

    Da hast Du natürlich Recht, aber in seinem Fall ist die Sache doch noch viel zynischer: Aylan ist schließlich weder in einem syrischen Gebirge erfroren, noch wurde er von IS-Kämpfern erschossen. ER STARB, WEIL ES SEINEN ELTERN NICHT ERLAUBT WAR, IN DEM BEI DEUTSCHEN TOURIS BELIEBTEN URLAUBSORT BODRUM EIN FLUG- ODER FÄHRTICKET ZU KAUFEN UND DAMIT (MEINETWEGEN NACH REGISTRIERUNG UND UNTER AUFSICHT VON EU-POLIZEI) LEGAL UND VOLLKOMMEN GEFAHRLOS IN DIE EU EINZUREISEN!!!!!!

    Ich finde es absurd, wie selten diese ganz unmittelbare Kausalität benannt wird. Stattdessen lässt sich Deutschland für seine Willkommenskultur feiern, empört sich brav über rechte Idioten und tut so als wäre der IS für die EU-Einreisebestimmungen verantwortlich….

  12. Danke für diesen Kommentar, den ich sehr wichtig finde. Ich teile deine Meinung nicht in jedem Punkt – finde sie aber sehr, sehr wichtig als Denkansatz!

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