Die Enden der Skala

Evolution ist etwas, das man, obwohl es in jeder Sekunde passiert, nicht sehen kann. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Veränderungen, die sie bewirkt, nicht sprunghaft auftreten, sondern sich nach und nach, mit jeder Generation ein Stückchen mehr ausprägen. Bis man wirklich deutliche Veränderungen bei einer Art wahrnimmt, vergehen je nach Generationslänge einige Tagen bis tausende von Jahren. Jede Generation unterscheidet sich kaum von der vorhergehenden, man kann die minimalen Abweichungen leicht mit der normalen Variation eines Merkmals oder Verhaltens verwechseln und so niemals auf die Idee kommen, dass man sich gerade mitten in einer artumwälzenden Revolution befindet. Erst wenn man die Enden der Skala betrachtet, die erste und die letzte Generation, wird das ganze Ausmaß der evolutiven Anpassung deutlich. Es hat geologische Ewigkeiten von der ersten körperlichen Aufrichtung des Australopithecus afarensis bis zum aufrechten Gang des Homo erectus gedauert. Hätte man jede einzelne Generation während dieser sich über Millionen von Jahren hinziehenden Entwicklung gefragt, ob gerade irgendetwas Besonderes passiert, sie hätten vermutlich verneinend gegrunzt. Am Ende der Skala aber stand ein Wesen, dem seine neue Fortbewegungsweise die ganze Welt eröffnete, Lebensräume und Strecken, die für seine gebückteren Vorfahren unmöglich zu erschließen gewesen wären.

Die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen verhält sich ganz ähnlich. Jede Generation unterscheidet sich kaum von der vorherigen. Jede Generation Eltern schimpft über jede Generation Kinder, über deren Musik, deren Kleidungsstil, deren Sprache und Verrohung. Jede entsetzte Reaktion auf technische Neuerung ist genauso schon einmal da gewesen, bei der Erfindung des Buchdrucks sagte man ebenso den Untergang des Abendlandes voraus wie bei der Erfindung des Internets. Wir stehen vor solchen Phänomenen, schütteln schmunzelnd den Kopf, denken versonnen “Jaja, so war es immer und so wird es immer sein” und fühlen uns sehr geborgen in dem wohligen Gefühl, dass sich fast nichts ändert. Die ebenso beruhigende wie trügerische Floskel angesichts unschöner, aktueller Entwicklungen lautet stets “Das gab es schon immer, das Internet hat sie nur sichtbar gemacht”.

Augen zu und durch

Wir tun alles dafür, um nicht zuzugeben, dass der Mensch sich verändert, dass die Gesellschaft sich verändert. Wir stecken uns die Finger in die Ohren und machen “Lalala!”, wenn es darum geht, überhaupt nur in Erwägung zu ziehen, dass die vom Menschen geschaffene Zivilisation global, langfristig und schädlich auf ihn zurückwirken könnte. Kulturpessimisten nennt man die, die es tun, Demut vor den Grenzen und möglichen Konsequenzen menschlichen Handelns ist unsere Sache nicht, wenn wir ganz ehrlich sind.

Damit dieses Ignorieren überhaupt gelingen kann, betrachtet jede Generation nur sich selbst, mehr als fünfzehn oder zwanzig Jahre haben wir als Gesellschaft selten im Blick. Die Warnungen der WHO vor einer überalterten Welt, in der sich die Zahl der Demenzfälle in den nächsten dreißig bis fünfzig Jahren verdoppeln wird, ignorieren wir, weil: “Hey, dreißig Jahre, was kümmert mich, was in dreißig Jahren ist?!” Dreißig Jahre ist ein Zeitraum, den die meisten Menschen meines sozialen Umfeldes noch selbst erleben werden.

Damit dieses Ignorieren überhaupt gelingen kann, betrachtet auch jedes Land nur sich selbst, mehr als eine Handvoll Länder haben wir als Gesellschaft selten im Blick. Den dramatischen Meldungen zum Wachstum der Weltbevölkerung begegnen wir gelassen, denn 1.) leben wir – haha, Gottlob! – im Land mit der zweitniedrigsten Geburtenrate der Welt und 2.) betrifft das ja nur die anderen, die Entwicklungsländer. Konflikte und Kriege in anderen Ländern, drüben bei den Heiden? Das geht uns nichts an, da halten wir uns heraus. Andere Länder, andere Sitten, andere Probleme. My country is my castle.

Zustände

Das ist tückisch und gefährlich, denn nichts verhütet Gegenmaßnahmen bei problematischen Entwicklungen so zuverlässig wie die mangelnde Problemeinsicht. Dinge, die schon immer da waren, sind wie schlechtes Wetter, “Kann man nix bi moken”, wie der Hamburger sagt, das muss man hinnehmen und sich halt die Gummistiefel anziehen. Wir lügen uns die Welt schön und die Probleme überschaubar, damit wir nicht mit den Enden der Skala konfrontiert werden und dabei erkennen müssen, dass eine Entwicklung und ihre Folgen vielleicht doch größer sind als wir es uns wünschen.

Es gibt heute weniger Kriegstote als früher? Hurra, sagt der Ökonom Max Roser, und ignoriert, dass das vielleicht nur deshalb so ist, weil heute viel mehr Menschen flüchten als früher und dem Tod durch Krieg so entgehen. Oder weil es heute Waffen gibt, die im Vergleich mit einer herkömmlichen Fliegerbombe mit grauenerregender Präzision arbeiten. Außerdem ignoriert er bei seinem Jubel, dass wir in einer Zeit, in der Konflikte immer häufiger dezentral und immer seltener durch uniformierte Armeen ausgetragen werden, den Begriff “Krieg” ganz neu denken müssen. Ebenso wie den Umstand, dass die Anzahl der weltweiten innerstaatlichen Krisen und Konflikten seit Jahrzehnten ansteigt. Gewalttätige Auseinandersetzungen haben nämlich etwas mit der Bevölkerungsdichte zu tun, wo sich Menschen begegnen, gibt es Krieg, das ist die beschämende Quintessenz der Menschheitsgeschichte. Die ersten Nachweise kriegerischer Auseinandersetzungen sind gerade einmal gut 13.000 Jahre alt (“Cemetery 117”), vorher war die Bevölkerungsdichte schlicht zu gering, als dass es überhaupt Gelegenheit für Streit gegeben hätte. Wo wir also als Menschheit alles dafür tun, dass die Bevölkerung weiter wächst, tun wir alles dafür, dass auch die Zahl der Konflikte weiter steigt.

Apropos Überbevölkerung: Heute hungern weniger Menschen auf der Welt als vor dreißig Jahren? Potztausend, dann sind wir als Menschheit ja auf dem richtigen Weg! Verdrängt ist der Umstand, dass es vielleicht weniger als vor dreißig Jahren sind, aber immer noch vielfach mehr als vor der Kolonialisierung etwa oder vor der Industrialisierung, vor dem explosionsartigen Anstieg der Weltbevölkerung, der jede Form von natürlichem Gleichgewicht quasi von jetzt auf gleich (also innerhalb von wenigen Dekaden) beendet hat. Wo wir in kindlicher Naivität über die steigende Lebenserwartung und sinkende Sterblichkeit der Menschen jubeln, blenden wir schlicht aus, dass es kein Gleichgewicht ohne den Tod gibt, dass jedes Wachstum in einem geschlossenen System, wie es der Planet Erde eines ist, endlich ist.

Die Frauenbewegung hat so viel erreicht, dass Frauen bis auf kleine Details gleichberechtigt und in Sicherheit sind? Falsch. Gewalt gegen Frauen ist ein weltweites Phänomen und unterscheidet sich zwischen Erster und Dritter Welt nur durch wenige Prozentpunkte. In einzelnen Ländern (z.B. Indien und China) haben Gewalt und geschlechtsspezifischen Abtreibungen bereits dazu geführt, dass Frauen in der Minderzahl sind. Das wiederum bedeutet, dass die Konkurrenz unter Männern und damit die Gewaltbereitschaft ansteigt, was in weiterer Gewalt gegen Frauen gipfelt. Et voilà – Teufelskreis!

Unsere Wirtschaft floriert, uns geht es gut? Ja, aber die Wirtschaft ist ein System, das ständig wachsen will. Um zu wachsen, um steigende Gewinne zu produzieren, braucht sie ständig mehr Leistung, mehr Angestellte, mehr Käufer und geringere Produktionskosten. Wir haben die Produktionskosten dadurch verringert, dass wir alles da produzieren lassen, wo die Menschen umgerechnet nur ein paar Cent für ihre Arbeit erhalten. Die Folgen sind einstürzende Fabrikgebäude, Chemieunfälle, schlechte Qualität der Waren, geplante Obsoleszenz. Wachstum um jeden Preis, die Wirtschaftsleistung muss steigen und steigen, die Produktionszyklen werden immer kürzer. Seit 50 Jahren quatschen wir von der Rettung des Regenwaldes und scheitern noch immer an dem 3-Liter-Auto. Weil wir es eigentlich nicht wollen. Wir wollen nicht aufhören, neue, tolle, größere, leistungsfähigere Dinge zu begehren und zu kaufen. Sobald der Auto- oder Handyhersteller das nächste geile Modell rausbringt, vergessen wir die globalen Zusammenhänge, sabbern wieder auf das Display oder das Amaturenbrett und schieben die Verantwortung für die Veränderung auf die Politiker. Sollen die die schiefen globalen Verhältnisse doch mit besseren Gesetzen zur Weltwirtschaft regeln. Dass die Nachfrage, unsere Nachfrage, den Markt regelt, davon wollen wir nichts wissen.

Eine Frage des Maßstabs

Wir leben in einer globalisierten Welt, d.h., in einer Welt, in der wegen der wuchernden Wirtschaft und weltumspannender Produktionsketten Landesgrenzen und Nationalitäten immer geringere Rollen spielen, es gibt nicht mehr Meins und Deins, Überbevölkerung und Kriege in der Dritten Welt sind nicht Problem der Dritten Welt, sondern der Welt. Wenn wir weiterhin nur so kurze Zeiträume und unser eigenes Land betrachten, werden wir nie in der Lage sein, die großen zeitlichen und weltweiten Zusammenhänge zu erkennen und aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen.

Albert Einstein hat einmal gesagt, dass man kein Problem mit derselben Denkweise lösen kann, aus der es entstanden ist. Können wir also bitte aufhören, so zu tun, als ob sich nichts ändert? Als ob der Mensch unantastbar für seinen eigenen Einfluss ist? Können wir aufhören, so zu tun, als ob wir hier in Deutschland auf einer kleinen Insel des Wohlstands und der Sicherheit sitzen und anfangen, uns als Teil einer Menschheit zu sehen, die Probleme zu lösen hat? Dringende Probleme? Probleme, die im Verlauf der nächsten hundert Jahre alles auf den Kopf stellen können, was wir kennen? Wassermangel? Migrationsbewegungen? Überalterung? Demenz? Bevölkerungsdichte? Eine Weltwirtschaft, deren Krisen immer größere Auswirkungen haben? Könnten wir bitte die Enden der Skala betrachten und nicht nur das Gestern und das Morgen?

Und könnten wir auch ein bisschen Demut zeigen vor unserer eigenen Fehlbarkeit, unserer Zivilisation? Alles, was der Mensch auf der Erde tut, tut er zum ersten Mal. Alles ist trial and error, nichts als ein Versuch, es richtig zu machen. Niemand hat uns angeleitet, wie es richtig geht, es gibt keine andere Zivilisation, bei der wir uns etwas abschauen können. Alles, was wir tun, jede Erfindung, jeder einzelne Schritt, den wir als Menschheit gehen, kann richtig sein. Er kann aber ebensogut falsch sein. Könnten wir das bitte im Hinterkopf behalten, wenn wir das nächste Mal kritische Stimmen als Kulturpessimisten bezeichnen?

Wir haben auf unserem zivilisatorischen Weg vieles richtig gemacht, aber auch ebenso vieles falsch. Wir haben uns durch das Amalgam guter und weniger guter Entwicklungen extrem weit von einem natürlichen Gleichgewicht entfernt, von einem natürlichen System, das sich selbst reguliert und selbstständig dauerhaft erhalten kann. Wir haben Sexualität zu etwas gemacht, das wir ablehnen, das nur unter bestimmten Rahmenbedingungen akzeptabel ist, das bereits bei Kindern und Jugendlichen mit Scham und Schuldgefühlen belegt ist. Dieses kranke Verhältnis zur Sexualität ist einer der Hauptgründe von Hass und Gewalt gegen Frauen. Wir haben mit Religion und Glauben ein Phänomen in die Welt gelassen, das den tatsächlichen Kampf um notwendige Ressourcen als Kriegsbegründung abgelöst hat. Heute massakrieren die Menschen sich im Streit um den richtigsten imaginären Freund und sie tun es mit einer Verbissenheit, als würde ihr Leben davon abhängen. Wir haben eine Wirtschaft geschaffen, die menschlichem Tun und Sein einen materiellen Wert zuordnet, und damit alle ausmustert, die keine geldwerte Leistung erbringen. Wir haben uns vom Tod so weit entfremdet, dass wir ihn als unmoralisch empfinden, als ultimative Beleidigung unserer zivilisatorischen Großartigkeit. Aus der Angst vorm Sterben ist eine Verpflichtung zu leben geworden und diese christlich geprägte Sichtweise haben wir Europäer im Laufe unserer Geschichte allen Völkern aufgedrückt, über die wir hinweggefegt sind.

Können wir bitte anfangen, diese Entwicklungen grundsätzlich in Frage zu stellen, weil sie der Menschheit langfristig schaden werden oder es zum Teil schon tun?

Ich bin im Moment sehr müde. Über die Nazis und die Intellektuellen, über die Kapitalisten und die Moralisten, über die Maskulisten und über die, die sich für Revolutionäre halten, in Wirklichkeit aber Kulturalisten allerschlimmster Sorte sind. Nie in meinem Leben habe ich mich so hoffnungslos gefühlt, wie gerade jetzt, wo die Welt im Wandel ist, in einem unguten Wandel, den niemand sehen will.

Die Enden der Skala

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16 Kommentare

  1. Guten Tag.

    … Zitat:
    ” … Nie in meinem Leben habe ich mich so hoffnungslos gefühlt, wie gerade jetzt, wo die Welt im Wandel ist, in einem unguten Wandel, den niemand sehen will. …”

    Die Hoffnung ist ein eigen Ding!
    Ich versuche schon seit längerer Zeit ohne sie auszukommen – obschon sie ja immer in hohen Tönen gepriesen wird.
    Wer hofft – kann enttäuscht werden. Und wird es auch oft.
    Das kann nicht gut sein. Für mich jedenfalls IST es nicht gut.
    Ich arbeite auch daran, naiver und einfacher strukturiert zu werden.
    Zu hohe Komplexität zerläuft in meiner Wahrnehmung zu oft in grenzenlose Beliebigkeit und ist auch anstrengend und zeitraubend.

    Ich möchte tun und unterlassen, was ich bei ernsthafter Selbstprüfung für gut und für richtig halte. Und ich möchte es genau deshalb tun!

    Ohne Schielen nach Erfolg, nach Anerkennung, nach Mithilfe Anderer, ohne Hoffnung.
    Einfach weil es gut ist. Einfach, weil es richtig ist.
    Ich will das beabsichtigte ernsthaft und mit Einsatz meiner Fähigkeiten tun, sorgfältig, kreativ, geduldig.
    Mehr als Versuche werden es dennoch oft nicht sein.
    Aber ehrliche.

    Viel mehr kann ich nicht sagen.
    Und nein: ich bin Mitglied keiner Sekte, Kirche, noch Partei!

    MfG
    Burkhard Tomm-Bub, M.A.

  2. Deine Müdigkeit kann ich nachvollziehen, dabei ist gerade jetzt die Wachheit der Menschen, welche die Probleme erkennen, so wichtig. Ich zähle mich auch zu diesen Menschen, und ich versuche meine inzwischen drei Kinder so zu erziehen, dass sie in eben dieser veränderlichen und volatilen Welt nicht nur zurechtkommen, sondern sie verbessern werden. Das gibt mir immer wieder Kraft und Hoffnung hilft mir, auch bei immer neuen Hiobsbotschaften zu denken: Jetzt erst recht!

    Vielen Dank für deinen großartigen und wichtigen Text.

  3. “Wir haben mit Religion und Glauben ein Phänomen in die Welt gelassen, das den tatsächlichen Kampf um notwendige Ressourcen als Kriegsbegründung abgelöst hat. Heute massakrieren die Menschen sich im Streit um den richtigsten imaginären Freund und sie tun es mit einer Verbissenheit, als würde ihr Leben davon abhängen.”

    Ich glaube, ich kann voll und ganz nachvollziehen, was du da so schreibst. Jedoch finde ich z. B. diesen Absatz etwas simplifiziert. Ja tatsächlich, mir geht es darum, Religion zu verteidigen, ich weiss, dass ich nicht besonders cool ;)

    Ist Religion an sich (die man auch erst mal näher definieren müsste) ein Phänomen, was in “die Welt gelassen wurde”? Ich würde behaupten, sowas war schon immer da und entspricht einem elementaren Bedürfnis von Menschen. Um eben nicht verrückt und depressiv zu werden (obwohl das, wie es gerade global ja auch wieder schön gezeigt wird, natürlich auch mit und gerade mithilfe von Religion klappt). Wenn man sich die großen Religionen mal so anschaut (ich spreche hier von Christentum, Buddhismus und Hinduismus – z.B. mit dem Islam kenn ich mich leider zu wenig aus), sind die sich eigentlich alle sehr ähnlich. Es geht immer um Hingabe, Loslassen, Kontrolle abgeben, Glauben, Hoffnung, die Idee von etwas Größeren. Es gibt entsprechende “heilige” Orte, an denen man “ganzheitlich loslassen” kann, da wird mit Geruch, Klang etc. gespielt – also mit allen Sinnen wird es dem Menschen erleichtert, im “Jetzt” zu sein und Vertrauen zum Leben zu haben. Dementsprechend sind auch immer meditate Elemente dabei (sei es Rosenkranz und Singen oder whatever).

    Daher ist meine These eher, “Religion” oder meinetwegen “Spiritualität” gehört zu dem Menschen. Letztendlich sagt die heutige Psychologie nix anderes, bei Schlafstörungen soll man eine Abendroutine entwickeln, Meditation ist “wissenschaftlich erwiesen” gut für den Menschen, z.B. die Metta Meditation wird auch im Knast eingesetzt und fördert Empathie. Auch gehen die modernen “Wellness-Tempel” in genau die selbe Richtung, auch viele Fitness- und Health-Drinks (z.B. diese Detox-Geschichten haben ja auch was Religiöses mit dem Gedanken der Reinigung). Und wenn man sich so manche z.B. linken Dogmatiker anschaut, kommt einem das manchmal auch eher wie eine ungesunde Ersatzreligion vor, dementsprechend verbittert, unglücklich und engstirnig sind sie dann manchmal.

    Wie gesagt klar, Religion kann total in die falsche Richtung gehen, ebenso gab es sicher schon so manche Opfer aufgrund von Liebe/Sex – aber man würde ja auch nicht sagen, dann muss halt der Sex weg. Ich glaub, es sollte eher darum gehen, emanzipative Elemente darin zu finden, die das Ziel haben, die Welt zu verbessern – mit dem Verständnis im Kopf, dass jeder seine eigene Wahrheit hat, in 100 Jahren die Wahrheiten wieder ganz andere sind und wir sowieso eigentlich nur sehr wenig wissen.
    Und der Glaube an was, was über uns hinhaus geht, führt eben nicht zwangsläufig zu wahnsinnigem Fundamentalismus. Ich kenne z.B. gerade so manchen Refugee, dem die Religion laut eigener Worte die größte Unterstützung ist. Und umso älter man wird, und auch eigene Grenzen erkennt und dass sich eben nicht mal so alles ändert, braucht es vielleicht sowas, um nicht verzweifelt und depressiv zu werden. Ich mag ja z.B. den Buddhismus, das sind viele alte Weisheiten, die man nicht einfach so abtun sollte und die man auch nur als hilfreiche “Philosophie” lesen kann, wenn man mag.

    Kannst du ein klein wenig was anfangen, was ich schreibe? :)

    • Ich stimme mit Dir überein, dass Spiritualität ein natürlicher Begleiter der gestiegenen Intelligenz der Menschen war. Anzeichen für kultische Akte sind ungleich älter als die großen Religionen, etwa die rituelle Bestattung von Toten mit Blumen und Schmuck.

      Mit Spiritualität habe ich auch kein Problem, nur eines mit ihrer Institutionalisierung. Religion dient dazu, die freie, ungerichtete Spiritualität in eine feste Form zu gießen, um – ja, davon bin ich überzeugt – die Menschen zu kontrollieren. Die umfassenden und grundlegenden Regelwerke religiöser Institutionen sind autoritär und greifen seit jeher tief in das Leben der Menschen ein, selbst in die privatesten Bereiche. Religion macht Menschen unfrei.

      Der unbedingte Bekehrungswille fast aller Religionen ist gewalttätig und invasiv. Ganze Kulturen wurden vernichtet durch die Missionare, die im Fahrwasser der Kolonialisten und Weltumsegler an die Strände neuer Welten gespült wurden.

      Mit dem Aufkommen der abrahamitischen Religionen wurde außerdem die Herrschaft des Mannes über die Frau, die sich mit der Entstehung des Patriarchats lange vorher gebildet hatte, durch die Gottgleichheit des Mannes, von dem die Frau nur ein Ableger ist, einzementiert. Die Frau wurde erst durch Religion so grundlegend und flächendeckend mit der Sünde, dem Bösen und Unreinen assoziiert. Diese vermeintliche Unreinheit löste einen zerstörerischen Konflikt des Mannes mit seinem eigenen natürlichen Begehren und einen Rattenschwanz an Schuldgefühlen ausgelöst haben, die sich letztlich in Hass gegen Frauen niederschlagen.

      Religion geht nicht immer schief, in allen Religionen gibt es mehr friedfertige als gewaltbereite Gläubige, das weiß ich wohl, aber wenn es schief geht, sind die Folgen so katastrophal, dass der Preis für das Bisschen Hoffnung und Durchhaltevermögen, die Religion den Menschen gibt, zu hoch ist.

      • Menschen sind halt Menschen und Systeme sind immer nur so “gut” oder “schlecht” wie die Menschen die sie schaffen und (be-)leben. Das gilt m.a.n. fuer Parteien, Kindergeburtstage oder Religionen alike. Ich bin ueber die Jahre immer deutlicher gegen diese (wie ich finde zu bequeme) Neigung Verantwortung und Fehlverhalten auf “den Kapitalismus”, “die Kirche”, “das Gesetz” also auf letztlich entpersonalisierte Systeme abzuschieben. Das ist zu einfach und gibt, schoenen Gruss von Hanna Arendt, jederzeit die Ausrede “ich bin ja garnicht verantwortlich, das System hat mich so beeinflusst” . Nein, never. Wir haben nd hatten immer und stetig die Verantwortung human zu handeln. Voellig egal ob religiös, humanistisch, rationalistisch oder blöd. Die Verantwortung kann einem niemand nehmen.

    • Religion ist eine in ein spezifisches kulturelles Narrativ gegossene Spiritualität. Religion hilft die Spiritualität mit den Geschehnissen des Alltages zu verbinden. Sei es der Rhythmus des landwirtschaftlichen Arbeitens, die schönen und insbesondere die tragischen Momente im Leben uvm.

      Spiritualität ist für viele schwer mit dem alltäglichen Leben zu verbinden, zumindest scheint dies im aktuellen evolutionären Zustand der Fall zu sein. Religion hat, wie alle kulturellen Narrative, schnell seine Unschuld verloren, weil sie instrumentalisiert wurde von Personen und Gruppen, die ihre Macht “dauerhaft” installieren wollten.

      Selbst die Spiritualität der Wissenschaft, die sich für mich in einem der schönsten Sätze der großen Erzählers Carl Sagan ausdrückt, als er sagte: “Im Bewusstsein des Menschen erkennt die Natur sich selbst” (“We are a way for the Cosmos to know itself.”), selbst diese Essenz, die das ewigen Streben nach Erkenntnis im unermesslichen Nichterkannten in einen ganzheitlichen Zusammenhang setzt, kann nicht davon ablenken, dass Wissenschaft(ler), wenn sie Macht haben wollen, sich am Narrativ versündigen.

      Spiritualität braucht keinen Gott, aber sie braucht eine breit verständliche Erzählung, die es Menschen ermöglicht, sich mit ihr zu verbinden. Ich halte es für ein Makel, dass die religiösen Erzählungen eine wie auch immer geartete Form eines überirdisches Es
      für notwendig hielten, aber akzeptiere dies als Element des evolutionären Moments, in dem wir uns gerade befinden.

      Insofern danke für die kurze Verteidigung der Religion von Lisa und die ergänzenden Worte von Meike.

  4. Grossartig zusammengebracht, was zusammengehört … ohne zu moralisieren, sondern den Menschen als das anzusehen, was er ist: ein fehlbares Wesen …

    danke
    herzlichst
    Ulli

  5. Kulturpessimismus ist durchaus angebracht, geht mir hier allerdings nicht weit genug. Kontrolle und Unterdrückung ging und geht auch ohne Institutionalisierung von Religion sehr gut. Die Frauenbeschneidung wurde nicht von den abrahamitischen Religionen erfunden (gilt auch für die Männerbeschneidung), beispielsweise. Dann die Vorstellung, dass wir uns weit von einem natürlichen Gleichgewicht entfernt haben und nicht mehr nachhaltig sind…ich würde behaupten, das waren wir noch nie (was keine Entschuldigung ist).

    https://www.youtube.com/watch?v=iGCfiv1xtoU

    Aber das sind Kleinigkeiten, ich wünsche ein gutes Herausfinden aus der Hoffnungslosigkeit.

    Gruß vom Nachbarn

  6. [..] Nie in meinem Leben habe ich mich so hoffnungslos gefühlt,
    [..] wie gerade jetzt, wo die Welt im Wandel ist, in einem unguten
    [..] Wandel, den niemand sehen will.

    als ich es las, dachte ich “ja, so ist das, g*ttseidank bin ich alt und muss mir den rest der show erst gar nicht geben … sollen die doch gucken, wie sie damit zzurecht kommen.”

    ja, ehrlich, so denke ich, wenn ich sehe, wieviel zeit junge menschen mit dem unbezahlten testen der features ihrer neuen hardware aufbringen und wie wenig damit, über die welt nachzudenken, in der sie mal leben wollen/werden/müssen … und wie wenig sie dafür tun, daß es eine bessere wird.

    aber … es gibt da diese schöne doku “die geschichte der jugend” bei arte, die mich mal mit der erkenntnis, daß wir einfach nicht wissen, “wofür das gut ist”, zurückließ und mit “der jugend” versöhnte. oder den gedanken, daß wir ja nur sehen, was uns gezeigt wird, und wir vieles nicht sehen, was auch ist und bloß in einem anderen land passiert, das uns nicht so sonderlich interessiert. oder von dem uns nur das interessiert, was uns die panikmedien so täglich unter die nase reiben.

    daß es viel gibt, was wir sehen, aber falsch verstehen, weil wir es mit unserem blick sehen und unseren maßstäben interpretieren.

    ich weiss nicht, ob dich das irgendwie tröstet, aber … ich sehe eben auch dinge und menschen, die mich optimistisch stimmen, jedenfalls, was “die welt” betrifft, junge hippies in brasilien, den wunderschönen baoputang365 blog bei tumblr, die fröhlichen kiffer in amerika, eine junge frau auf wahrscheinlich den philipinen, die buddhismus und moderne miteinander verknüpft. oder diese junge frau aus china, mit der ich tee trinken darf seit einem jahr. da ist so viel ruhe und so viel neu erwachter fähigkeit zu träumen da draussen, daß ich beim besten willen dem hier herrschenden kulturpessimismus nicht wirklich was abgewinnen kann und mir selbst mit “teemenschen” bei tumblr einen ort geschaffen habe, an dem ich am ufer des flusses dem vorübertreiben dessen zugucken kann, was uns beide bedrückt.

    das ist nur dieses land, diese kultur der gier, dieser elende zynismus. das sind “erscheinungen” (im sinne von geistern, trugbildern), die – so hoffe ich – nur das vorgeplänkel einer weltweiten veränderung zum besseren sein könnten und das, was wir empfinden, nur ein “phantomschmerz” ist.

    [..] Jede Generation Eltern schimpft über jede Generation
    [..] Kinder, über deren Musik, deren Kleidungsstil, deren
    [..] Sprache und Verrohung

    ach ja, ich habe drei erwachsene töchter und so lange ich denen immer noch 5 jahre voraus bin im verständnis der technologie, mit der wir leben, und ich nicht schon alleine deshalb schimpfen müsste, weil ich mich abgehängt fühle, so lange können die anziehen, hören und reden, wie sie wollen.

    die sind ja nicht “verroht”. das ist ja das einzige, was wir tun können: unsere kinder zu empathichen menschen erziehen, ein bißchen wie in diesem CSNY song “teach your chiildren” (“their father’s hell is just a goodbye”).

    den rest, den müssen sie schon selbst hinbekommen. wenn sie sich da was einrüjhren, was sie dann später in trouble bringt, tcha, damit müssen sie dann halt selbst zurecht kommen, oder? irgendwann ist ja mal gut mit dem sich sorgen machen.

    in diesem sinne, liebe frau meike, klingt jetzt vielleicht blöd, “kopf hoch” und vor allem, gib den guten da draussen mal einen vertrauensvorschuss. wir wissen halt nicht, wofür es gut ist und es gibt nicht nur deutschland.

    und vor allem, hab’ mehr vertrauen in die evolution … ;-)

  7. Ich habe resigniert, bin zu müde und hoffnungslos, weil machtlos und hilflos den weltlichen Problemen gegenüber.
    Ich gucke, wo ich bleibe und meine Familie, freue mich über Menschen, die ich mag und suche ihre Nähe, möchte das Leben genießen.
    Die Bedrohung ( kranke Welt) nehme ich permanent wahr und denke dass zuviel falsch ist. Möchte mich nicht mit diesem heillosen weltlichen Durcheinander befassen, weil ich keine Möglichkeit sehe, etwas zu verändern. Der Todestrieb der Menschheit ist zu groß, eine Rettung nicht möglich durch mich. Wenn ich meine Lebenslust aufrechterhalte und lustvoll lebe, (ökologisch und das Gute im Blick etc.), dann befinde ich mich auf der anderen Seite der Skala, Richtung Lebenstrieb.

  8. Jeder ist (nur) für sein eigenes Handeln verantwortlich. Also hört bitte auf, die Welt verändern zu wollen, in dem ihr jedem sagt, was er tun und lassen soll. Ändert euer eigenes Leben, passt euer Tun eurem Denken an. Kehrt vor der eigenen Tür. Engagiert Euch ehrenamtlich, wenn ihr Drang habt etwas zu tun. Nur so ändert sich die Welt. Durch Taten.

    Texte, die aufzählen, was mit unserer Welt alles nicht stimmt, gibt es genug (wie u.a. mein Kommentar hier). Texte, die erzählen mit welchem Tun man die Welt ein Stückchen besser gemacht hat, gibt es viel zu wenige.

    • Sehe ich anders. Man kann Generationen von Menschen mit der Bekämpfung von Folgen und Auswirkungen beschäftigen, ohne dem Ursprung eines Missstandes jemals auch nur einen Zentimeter näher zu kommen. Ursachenforschung, das Hinweisen auf Ursachen und größere Zusammenhänge, ist wichtig, denn im Gegensatz zur Symptombekämpfung kann Ursachenforschung dazu beitragen, dass genau diese Ursache irgendwann beseitigt wird und nicht nur die Symptome, die sie auslöst.

      Sich mit oft dramatischen Auswirkungen zu beschäftigen, ist natürlich auch wichtig, aber das darf in meinen Augen nicht die ganze Kapazität binden, sondern verkommt es zum Selbstzweck ohne Aussicht auf echte Problemlösung. Das ist dann wie ein Arzt, der dem Kopfschmerzpatient lediglich immer neue Kopfschmerztabletten mitgibt, anstatt sich um den Gehirntumor zu kümmern, der den Kopfschmerz auslöst.

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