Zwei Anrufe

S. aus Hannover hat angerufen, schon vor zwei Wochen. Wir telefonieren selten, denken aber oft an einander. Ich würde sie als richtige Freundin bezeichnen.
Schon als sie sich meldet, merke ich, dass etwas passiert ist. Ihre Stimme klingt brüchig, wie aus einem Grab.

“Es ist der S.”, sagt sie. “Dem geht es ganz schlecht und er hat Krebs.”

Der S., so sagt sie das immer, obwohl sie ihn duzt, obwohl sie ihn seit fast zwanzig Jahren kennt.
Der S., das ist mein Doktorvater. Für mich ist er natürlich Herr S.
Herr S., der während meiner Disputation so verstohlen in sich reinlächeln musste, als ein anderer Prüfer mich fragte “Kennen Sie denn das Buch XY von YZ nicht?!” und ich antwortete “Doch, aber nicht auswendig.”
Über drei Jahre habe ich in seinem Institut zugebracht, ihm einmal in der Woche über den Fortschritt meines Projektes berichtet und mit ihm zusammen in der Mensa gegessen.
Ich mochte ihn auf Anhieb, wahrscheinlich weil er mich so an meinen eigenen Vater erinnert. Ein angenehmer Erzähler, dem man gerne zuhört.

“Er bekam plötzlich hohes Fieber und musste ins Krankenhaus. Aber da konnte man nichts machen und das Fieber ging auch nicht runter und deshalb haben sie ihn nochmal ins Universitätskrankenhaus verlegt, auf die Intensivstation. Und da haben sie Krebszellen in seinen Lymphknoten gefunden.”

Ich muss schlucken. Das hohe Fieber. In dem Moment weiß ich, dass es nicht mehr lange dauern wird.
Bei meinem Vati hat es vom Einsetzen des Fiebers bis zu seinem Tod zwölf Tage gedauert.
Das Fieber zeigt an, dass der Körper nochmal mit allem, was er hat, feuert. Gegen den Krebs vielleicht, ganz sicher aber gegen alle anderen Keime, die ihm unter normalen Umständen nur ein müdes Lächeln entlocken würden. Alles wird zur Bedrohung, die kleinste Infektion in Schach zu halten, kostet ihn unfassbar viel Energie. Bei meinem Vati war es eine Bronchitis, die seinen Tod einläutete.
Ich sage S. das nicht so, ich denke es nur.

Gestern Abend dann ein neuer Anruf. S. klingt noch brüchiger als beim ersten Mal.
“Der S.”, sagt sie, “er ist tot.”
Und mehr gibt es nicht zu sagen.
Ich weine.

Adieu, Herr S.

Wenn Ihnen meine Texte gefallen, können Sie mich via Paypal oder mit einer bezahlten Mitgliedschaft ab 3 Euro bei Steady unterstützen, und mich damit sehr glücklich machen.

5 Kommentare

  1. nun brennen meine augen auch. aber es gibt aber doch für niemanden keinen weg, dem tod zu entkommen… und ich will nicht deshalb leiden! nein, ich will “trotzdem ja zum leben sagen”…

    je intensiver du hier über den tod schreibst je tiefer es mich berührt, um so mehr geniesse ich mein am leben sein, mein glücklich sein und will nur noch alles anlächeln. und erst mit brennenden augen geht das wirklich und macht sinn…

  2. Liebe Meike, das ist schrecklich. Es tut mir leid. Das mit dem Fieber wusste ich nicht. Ist ja furchtbar es so vom eigenen Körper mitgeteilt zu bekommen.

  3. Wie sehr sich unsere Lebensabschnitte ähneln. Seit dem mein Vater nicht mehr bei uns ist, musste ich noch vier weitere liebe Menschen verabschieden. Erst kürzlich in Ohlsdorf die erste Waldfried-Beerdigung in meinem Leben. Da war ich so verzweifelt, das ich keinen Sinn in nichts mehr sah und die Erkenntnis aus mir herausbrach, wozu das alles, wenn man doch unter einem Baum landet. Zurzeit habe ich keine Kraft, aber stark bin ich immer noch. Vielleicht empfindest du es ähnlich.
    liebe Grüße
    magdalena
    unbekannt

Kommentare sind geschlossen.