Lieber Vater: Noch zwei Tage.

22. November 2009. Sonntag.
Vati ist noch da. Er lebt.
Mutti und ich sind fast ein wenig ungläubig darüber. Wir sagen, wir dachten, dass B.s Geburtstag die letzte Etappe sein würde. Das Letzte, was er noch erleben und erledigen will. Dass er danach in Frieden einschlafen wird. Unter uns sprechen wir offen; das, was gerade passiert, ist für uns alle entsetzlich. Mutti schläft keine Sekunde, bei jeder Atemunregel-mäßigkeit von Vati schreckt sie hoch, weil sie denkt, es ist soweit. Bei Lungenkrebs im Endstadium gibt es viele Atemunregelmäßigkeiten.
Für Vati, den dominanten Kontrollmenschen, ist all das hier ohnehin die Hölle auf Erden. Schwach sein, anderen ausgeliefert sein, nicht mehr bestimmen können. Vati steht an der Schwelle zum Hades und der Cerberus lacht ihn aus und sagt, Du kommst hier nicht rein. Vati will tot sein.

Mutti und ich sitzen also für einen Moment am Tisch und schauen uns an und schütteln ungläubig die Köpfe. Wieso geht es denn noch weiter? Wieso ist es denn nicht in der Nacht vorbeigegangen? Wir dachten doch, B.s Geburtstag.
Wir schämen uns nicht. Die Worte, die wir sagen, kommen uns nicht grotesk vor oder egoistisch. Dieses Entsetzen ist unser Leben, jeden Tag, und wir wissen nicht, wie lange es noch dauert.

Vati isst einen hochkalorischen Ernergiedrink aus der Apotheke — Schokolade, nicht Erdbeer, obwohl er Erdbeer immer geliebt hat, Erdbeereis, Erdbeerpudding, Erdbeermilch, frische Erdbeeren — und setzt sich danach auf den Sessel im Wohnzimmer. Er dämmert weg und Mutti und ich sprechen leise, um ihn nicht zu wecken. Vati hat ja genauso wenig geschlafen wie wir alle und muss unglaublich erschöpft sein. Aber jedes Mal, wenn wir zu flüstern beginnen, öffnet er die Augen und fragt, was? Er sagt, und seine Stimme klingt wie die eines Kindes, redet doch lauter, ich möchte auch hören, was Ihr sagt.

Später sitzen wir alle auf dem Sofa und blättern in Photoalben. Mutti links, Vati in der Mitte, ich rechts. B. ist nicht da, er hat es nicht ausgehalten und will heute ans Angelgewässer. So haben sie das immer gesagt, er und Vati: Ich fahre heute ans Angelgewässer, nicht, ich gehe angeln. B. ist also am Angelgewässer, es ist sein Weg, loszulassen, Abstand zu finden.
Wir sitzen also zu dritt und schauen alte Photos an, auf den meisten sind B. und ich noch kleine Kinder. Mutti sagt, kannst Du Dich daran noch erinnern?, und reicht mir Bilder herüber. Oder hieran? Vati dämmert. Wir beginnen wieder, leiser zu reden, doch sofort ist er wieder wach.
So gerne würde ich mal einen Moment ungehindert mit Mutti sprechen. Sie fragen, wie es ihr geht. Ihr sagen, wie es mir geht. Sie umarmen, mit ihr weinen. Bitte, Vati, schlaf doch ein. Es geht nicht. Die Batterie, die uns funktionieren lässt, ist nicht alle, sie geht einfach nicht alle, das Scheißding.

Am Vormittag kommt der beste Mann von allen, um nach uns zu sehen. Uns etwas zu essen zu machen, uns einen Moment zum Atmen zu verschaffen oder mich zu einem kurzen Spaziergang aus diesem Pfuhl aus Geruch, Tod und Verzweiflung herauszuholen. Er setzt sich neben Vati, Mutti und ich gehen in die Küche, um Brote zu schmieren. Wir hören nicht, was die Männer sprechen, wir nehmen uns in den Arm. Wir kommen mit den Tellern zurück und setzen uns.
Vati greift plötzlich rüber zu dem besten Mann von allen, streichelt ihm sehr liebevoll die Wande und legt ihm dann die Hand in den Nacken. Du bist ein lieber Kerl, sagt er.
Es ist mir in diesem Augenblick nicht klar, aber das ist die Begrüßung und der Abschied, Vati übergibt mich an meinen Mann und uns seinen Segen. Er reicht die Verantwortung für mein Heil weiter. Mein Herz verwandelt sich in eine Rosine.

Für Vati war ich immer das Nesthäkchen, das man beschützen muss. Mich hat das immer wahnsinnig gemacht, weil ich auf mehr und höhere Bäume geklettert bin als alle Jungs der Nachbarschaft zusammen. Aber jetzt, hier, ist alles in Ordnung. Ich schaue den Mann an, wir lächeln uns an, mit liebevoller Hilflosigkeit. Wir kennen uns gerade etwas über zwei Monate und auch, wenn wir uns absolut sicher sind, unseren Seelenpartner gefunden zu haben, kann es doch sein, dass dies alles zu viel sein wird. Dass unsere Liebe diesen Schmerz nicht aushalten wird.

Irgendwann geht der Mann wieder, zu einem Freund oder in ein Hotel, ich weiß immer noch nicht, wie er in Hamburg untergebracht ist, und Mutti und ich sind wieder allein mit Vati. Wir machen den Fernseher an, auf 3Sat gibt es ein klassisches Konzert. Ich kann mich an keinen einzigen Tag meines Lebens erinnern, an dem bei uns zuhause ein klassisches Konzert gelaufen wäre, weder im Fernseher noch über die Musikanlage. Aber heute scheint es genau das Richtige. Vati dämmert.
Mein Handy klingelt, es ist B., ich gehe nach nebenan, um das Konzert nicht zu stören.
Wir reden, ich sage, der Tag war ruhig, Vati ist ganz gelöst, wir haben Photos angeschaut. Es war schön.

Plötzlich kommt Mutti ins Zimmer gestürmt, mein Gott, Vati will sich anziehen und zu B. ans Angelgewässer fahren. Der Satz kommt mir absurd vor, Vati hat doch den ganzen Tag gedämmert, so schwach war er.
B. bleibt ruhig, mir kommt das in dem Moment nicht seltsam vor. Kann Vati noch fahren? Ich sage, um Himmels Willen, nein, er kommt noch nicht mal heil bis runter in die Garage! Was, wenn er auf der Treppe stürzt und sich was bricht? Krankenwagen will er nicht und Mutti und ich können ihn nicht alleine in die Wohnung zurücktragen. Und wenn er doch bis zur Garage kommt, dann nicht heil durch den Straßenverkehr! Er ist mit Morphium voll bis oben hin. Die Gefahr ist viel zu groß, dass dabei fremde Menschen zu Schaden kommen und das würde ich mir nie verzeihen.
B. sagt, eigentlich müsste man ihm den Wunsch erfüllen. Ich denke, er meint, dass ich Vati zum Angelgewässer fahren soll, und sage, bitte, B., verlang das nicht von mir. Ich bin seit Jahren nicht mehr Auto gefahren, ich kenne die Strecke nicht, habe seit Tagen zu wenig gegessen und geschlafen.
B. sagt, dann sag ihm, 1.) dass ich schon wieder dabei bin, zusammenzupacken, weil nichts beißt, und 2.) dass die Ausfahrt [Name, den ich vergessen habe] gesperrt ist, weil da ein Unfall war. Sag es ihm genau so.

Ich renne zu Vati, er sitzt auf der Bettkante und zieht sich gerade die Schuhe an, und rede zehn Minuten mit Engelszungen auf ihn ein. Schließlich gibt er die Gegenwehr auf und zieht sich wieder aus. Er wirkt niedergeschlagen, jeder Hoffnung beraubt.

In der Nacht, als er schon im Bett liegt, gehe ich zu ihm, um ihm Gute Nacht zu sagen. Ich stehe am Fußende und streichle seine Füße, die über die letzten Tage auf doppelte Größe angeschwollen sind, weil sich Wasser in ihnen sammelt. Vati wirkt müde, so unendlich müde.

Drück mir die Daumen, sagst Du, dass ich bald erlöst werde. Ich schaue Dich an, lächle, mein erster Impuls ist, den Wunsch abzuwehren, aber dann drücke ich leicht Deinen Fuß und sage, das mach’ ich.

Noch zwei Tage, dann bist Du tot.


 
Lieber Vater: Prolog.

Lieber Vater: Noch sieben Tage.

Lieber Vater: Noch sechs Tage.

Lieber Vater: Noch fünf Tage.

Lieber Vater: Noch vier Tage.

Lieber Vater: Noch drei Tage.

Lieber Vater: Noch zwei Tage.

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13 Kommentare

  1. Wow. Das fühlt sich sehr nahe an… ich hab das auch so erlebt, auch mit meinem Vater. Ich hab’s nie geschafft das aufzuschreiben, nur ein paar mal erzählt an langen Abenden mit zu viel Wein und Zigaretten. Bei uns ist das jetzt schon fast 5 Jahre her und mittlerweile bin ich mir ganz sicher, dass sich diese Wunde nie ganz schließen wird. Aber so lange ich in neun von zehn Fällen lächeln muss, wenn ich von ihm erzähle, ist das schon gut und weit mehr, als ich anfangs erwartet habe.

  2. Weißt du, heute stehe ich gelegentlich mit meinem Sohn am Grab meines Vaters. Der Sohn ist vier, er war zweieinhalb, als mein Vater starb.
    Und dann stehe ich da am Grab und der Sohn spielt mit den Steinchen und die Sonne scheint und ich kenne diese Perspektive ganz genau, wenn ich dann nach oben sehe. Rechts und links ein paar Baumspitzen und oben die Wolken, ich gucke dann immer, ob er runterschaut und einen seiner Enkel sieht, wie der Steinchen schmeißt.

    Dann, wenn ich nach oben schaue, kommen die Bilder. Bauchspeicheldrüsenkrebs und der Verfall des Rudelführers über Jahre mit Höhen und Tiefen. Das Kraftfeld, an dem sich ausgerichtet wurde, wurde immer schwächer in den letzten Monaten und das Zusammenstehen in den letzten Wochen und die Rückkehr der Brüder in ihre Kindheit. Zusammengehen, das Tragen über die letzten Tage. Fürchterliche Nächte, Verwirrungen durch Kopfmetastasen und dann bremse den Mann, dessen Wort die letzte Instanz war, bei dem du immer sicher warst.
    Und dann die Mutter, seine Frau, unglaublich tapfer und liebevoll, dann steht sie nachts im Zimmer und sagt “Ich glaube, Vater ist tot” und sie hat recht und wir stehen um ihn herum, ein letztes Mal und eine Kerze brennt.
    Tausend Tränen tief.

    Und dann bekommst du ein Steinchen an den Fuß und der Junge lacht dich an und du siehst in ihm dich selber und den, der fehlt. Jeden Tag, aber die Zeit damals, kurz vor dem Ende, die soll nie fehlen, sie hat uns ein anderes Kraftfeld geschenkt.

    Wir kleinen Teile in der großen Kette.

  3. Bei mir kommen auch Erinnerungen, die allerdings schon viele Jahre länger her sind – konkret Mai 1996. Der liebste aller Menschen, mein Partner, starb auch so über Tage hinweg in meiner Begleitung und in derer seiner Kinder. Es war Darmkrebs, aber das Endstadium ist wohl bei allen Krebserkrankten ähnlich schlimm – auch ich habe ihm nur noch gewünscht, dass er es geschafft hat – und genau in diesen 2 Minuten (ich war vor der Tür im Krankenhaus und sprach mit dem Arzt) war ich nicht dabei, bemerkte es aber vor den Krankenschwestern, die mit ihm beschäftigt waren, um eine neue Unterlage drunter zu legen.
    Ich erinnere mich immer noch voller Liebe an IHN.

  4. Hey du,
    ich lese deine Worte und bin sofort wieder drin.
    Ich habe eine Freundin vor 2 Jahren über den Sommer hinweg bis in den Tod begleitet. Ebenfalls Krebs, sehr aggressive Form. Vom Entdecken bis zum Tod hats kein ganzes Jahr gedauert, war nachher überall im Körper.
    Ich kenne dieses Hoffen in den letzten Tagen, dass es doch bitte endlich zu Ende geht. Leider ist es aber so, dass der Mensch enorm leidensfähig ist und es länger dauert, als es man es jemals für möglich gehalten hätte.
    Ich wünsche euch allen, dass es ein stilles Sterben wird, ohne Kampf und dass die Ärzte so nett sind, wie bei Uschi damals und einfach so viel an Medikamenten reinpumpen, dass es schmerzfrei ist und auch irgendwie wie in Trance. Ich denke man möchte all das auch gar nicht mehr mitbekommen und gesagt ist ohnehin schon alles.

    Ich wünsche euch allen Kraft und auch Liebe untereinander.
    Von Herzen, Nina

    • Vielleicht ein Missverständnis: mein Vater ist vor über drei Jahren gestorben, sein Tod liegt nicht in der Zukunft.

  5. Wie kommentiert man einen solchen Artikel, in dem so viel Liebe und Zuneigung und gleichzeitig so viel Leid und Schmerzen stecken? Würden wir uns kennen und du hättest mir das alles erzählt, würde ich dich vielleicht in den Arm nehmen, dir sagen, wie leid mir das alles tut und wie großartig ich es finde, dass ihr ihn so intensiv durch diese letzte Zeit begleitet habt. Ich würde dir vielleicht erzählen, wie viel Angst ich manchmal um meinen Vater habe, der gerade zum zweiten Mal Krebs “hinter sich” hat und man sich unwillkürlich fragt, wann er wieder auftaucht.

    Ich habe beim Lesen geweint, bei der Stelle, wie dein Vater euch seinen Segen gibt. (Und weine schon wieder, während ich dies schreibe.) Danke für deinen Bericht!

    Liebe Grüße,
    Stjama

  6. Mein Vater ist am 1.2.2013 gestorben. Genauso, wie Du es beschreibst haben Mutter und ich es erlebt. Nochmal aufspringen und weg laufen, nach Hause wollte mein Dad. Die Füsse ganz dick, die Finger auch, wie aufgeblasene Einmalhandschuhe. Zwei Tage später war er tot mein Vater.

    Danke für Dein Blog.

  7. Es ist erstaunlich wie sich die “Geschichten” gleichen, obwohl doch jedes Leben so einzigartig ist und verläuft…

  8. Bin völlig unvorbereitet über eine Blogroll hier gelandet; da hast Du mir ja jetzt schön einen mitgegeben…

  9. ich bin zufällig auf deinen blog geraten und möchte mich bedanken für diese eindrücke.

    eine sehr gute freundin habe ich sieben jahre lang in ihrer krebserkrankung begleitet. ihr körper so wund, so offen-aber sie konnte nicht sterben.
    ein grauen für sie und alle, die sie liebhatten.

    einen gleichaltrigen freund ein jahr lang mit lungenkrebs immer weniger, kleiner, zarter werden, verfallen sehen.
    viel viel schmerz und verzweiflung. und trotz allem: soviel stärke bei beiden.

    große, tiefe, sehr bewegende und bereichernde erlebnisse, die mich für den rest meines lebens geprägt und mich demütig vor dem leben gemacht haben..

    alles liebe
    anne

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