Die Moral von der Geschicht

Die Frage nach Gut und Böse ist ja so eine Sache.
Vor allem eine Sache, die jeder für sich ausmachen muss.
Neben ganz individuell definierbaren Fragen, zum Beispiel dem Umgang mit Wahrheit, gibt es auch eindeutigere Fälle, zum Beispiel die Tötung eines Menschen. Und für die Charakterbildung finde ich es ganz sinnvoll, sich bewusst mit der Frage zu befassen, was man selber als gut, schön und anständig und was als schlecht, schlimm und unanständig empfindet. In der Welt, nicht nur bei den Mitmenschen.
Das ist als innerer Referenzpunkt ganz hilfreich.

Ich baue seit rund 20 Jahren an meinem moralischen Haus und kann heuer voller Stolz sagen, dass die Grundmauern stehen. Aber in den Details finde ich immer wieder Neues. Situationen, Ereignisse, bei denen es mir nicht leicht fällt zu sehen, ob es gut oder böse, schön oder schlimm ist. Gerade auch Situationen, bei denen ich bisher immer dachte, sie seien völlig klar.

Ein Beispiel.

Ich bin so etwas wie gebürtige Biologin. Gebürtig, weil ich die Liebe zur Natur, die Liebe zu diesem großen natürlichen Gleichgewicht in mir spüre, solange ich lebe.
Und irgendwie habe ich immer gespürt, dass sich die Natur jeder moralischen Einteilung entzieht. In der Natur gibt es nichts Schönes und nichts Schlimmes, alles ist gleichwertig und alles hat seine Daseinsberechtigung. Es gibt keine schlechten Arten und keine guten, keine hübschen, keine hässlichen. Ein Raubtier ist nicht böse und ein Pflanzenfresser nicht lieb. Der Tod ist nicht schlimm und überlebende Jungtiere sind nicht schön. Es ist alles Teil der Natur, dieses komplexen Mechanismus, dessen einzelne Zahnräder so perfekt aufeinander eingestimmt sind.
Der Tod ist in dieser natürlichen Welt eine regulierende Größe. Krankheiten, die eine Population schwächen könnten, werden durch ihn ausgemerzt, die Populationsgröße einer Art bleibt in der Regel unter dem, was der Lebensraum hergibt, weil die Mortalität automatisch zunimmt, wenn die Ressourcen knapp werden. Evolutiv gesehen ist der Tod sinnvoll und man muss ein krankes Tier, das von einem Raubtier gerissen wird, nicht bemitleiden.
Wer das tut, ist dumm und vermenschlicht einen Vorgang, der die Welt im Innersten zusammenhält. Dachte ich zumindest.

Denn dann passierte etwas, das nur in diesem tollen Internet möglich ist.
Ich fand eine Webcam an einem Wasserloch in Botswana, genauer: Pete’s Pond in dem Naturreservat Mashatu.
Dort konnte ich in Echtzeit sehen, wie das so ist mit dem Leben und dem Tod da draußen.
(Eingebettetes Video aus Datenschutzgründen entfernt. Link zur Webcam.)

Kurz nachdem ich die Webcam entdeckt hatte, begann sich dort ein schmächtiger Impala-Bock herumzutreiben. Er war furchtbar abgemagert und stromerte mehrere Tage lang allein am Ufer von Pete’s Pond herum. Ganz offensichtlich war er krank oder alt. Die Reaktionen im Chat waren wie erwartet: hoffentlich stirbt er nicht, hoffentlich erwischen ihn die Schakale nicht, hoffentlich wird er wieder gesund. Innerlich schüttelte ich den Kopf und dachte darüber nach, dass es für das dortige Ökosystem und das Gleichgewicht der Arten sehr sinnvoll wäre, wenn der Bock gerissen würde.
Und dann kam die eine Nacht, die mich alles überdenken ließ.

Man muss wissen, dass sich um Pete’s Pond eine recht aktive Community gebildet hat. Es gibt die Facebook-Seite Pete’s Pond on Mashatu und die (leider geschlossene) Facebook-Gruppe Screenshot Sharing Page Pondies, wo Mitglieder in rascher Folge Screenshots von allen Tiere posten, die sie an Pete’s Pond beobachtet haben.
Dort fand ich eines Abends dieses Foto (Seiten und Bilder evtl. für Nichtmitglieder nicht sichtbar): ein Schakal stand am Ufer des Ponds und der schmale Impala-Bock im Wasser.
Das ist die Jagdstrategie der Schakale. Da sie zu klein sind, um eine ausgewachsene Impala-Antilope zu reißen, jagen sie sie und treiben sie ins Wasser, um sie zu erschöpfen. Wenn sie schließlich völlig entkräftet versucht, wieder an Land zu kommen, ist sie leichte Beute für die Schakale. So war es bereits einige Zeit vorher mit einer anderen Antilope geschehen, wie ich der umfangreichen Bildersammlung bei Facebook entnehmen konnte.

Schnell schaltete ich die Webcam ein.
Der Schakal ist mittlerweile nicht mehr zu sehen und der Bock steht viel näher am buschbestandenen Ufer, schon fast im Gebüsch. Er ist völlig regungslos, man kann ihn zwischen dem Laub kaum sehen. Nur gelegentlich zuckt ein Ohr oder er wendet den Kopf nach einem Geräusch. Die Hinterläufe scheinen zu zittern, er hat sich völlig verausgabt.
Plötzlich schiebt sich von rechts aus dem Gebüsch etwas Helles ins Bild. Weit, bis es den Bock fast berührt, kommt es hervor und zieht sich zurück, als er sich bewegt. Zweimal sehe ich es, zweimal zieht es sich wieder zurück. Das Kamerabild ist sehr krisselig, ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was es ist, aber es sieht aus wie der Kopf eines Schakals, der dort im Gebüsch steht, und eine erste vorsichtige Annäherung wagt, um zu prüfen, ob die Antilope schon erschöpft genug ist.
Man sieht der Antilope an, dass sie weiß, was am Ufer wartet. Ihr ganzer Körper ist Anspannung.

Und hier passiert es. Ich ertappe mich dabei, wie ich “Oh nein!” und “Bitte nicht!” denke. Ich verdränge die Gedanken sofort wieder, ich will das nicht denken, aber mein Herz klopft wie verrückt.

Das Helle verschwindet wieder und bleibt verschwunden.
Der Bock regt sich, scheint einen Ausweg zu suchen. Plötzlich rappelt er sich mit einer raschen Bewegung auf und springt mitten hinein ins Gebüsch, raus aus dem Wasser. Ich erwarte einen Kampf mit gewissem Ausgang, aber nichts. Stille. Der Mann an der Kamera, Zoomie genannt, versucht, den Bock wieder ins Bild zu bekommen, aber da ist nichts als Gebüsch. Außer dem Knacken des Elektrodrahtes, der die Kamera vor den Pavianen schützt, und dem Zirpen einer einzelnen Grille ist nichts zu hören. Zu sehen ist auch nichts, aber einige Minuten, nachdem die Impala-Antilope aus dem Wasser gesprungen ist, erhebt sich in einiger Entfernung der Gesang der Schakale.
Melodiös und klagend schallt das Geheul mehrerer Tiere minutenlang durch die Nacht. Danach nichts mehr.

Der magere Impala-Bock ist seit dieser Nacht nicht mehr aufgetaucht und ich blieb zurück mit einem inneren Konflikt.
Dieses “Oh nein, bitte nicht!” kollidiert auf so viele Weisen mit meinem Selbstbild, meinem Eigenanspruch, dass ich mich schäme.
Ich schäme mich für dümmliche Gedanken, die aus der Natur, diesem überwältigenden und faszinierenden Ungetüm, einen Streichelzoo machen wollen, aus einem alten oder kranken Tier ein Kuscheltier. Ich schäme mich, weil mein Geist den Ereignissen mit aller gebotenen Aufgeklärtheit begegnet, mein Bauch aber Mitgefühl spürt. Ich schäme mich, weil ich mit der typischen menschlichen Hybris menschliche Werte an etwas anlege, das viel größer ist als kleinliche Menschlichkeit. Ich schäme mich, weil ich das große Prinzip Evolution verrate und gegen “Eiteitei” eintausche.
Dieser Konflikt stürzt mich in tiefe Grübelei. Ich muss darüber nachdenken, wie ich diesen Verrat aufdröseln kann.

Nach einer unruhigen Nacht und einem Vormittag, den ich zu allem Überfluss mit einem verdorbenem Magen zubringe, finde ich diesen Ansatz.
Es ist sinnvoll, dass die Antilope stirbt, weil sie krank und schwach ist, aber vielleicht ist es auch in Ordnung, mir zu wünschen, dass sie nicht lange leiden musste.
Vielleicht ist es in Ordnung, dass ich schlucken muss, weil die Schakale tricksen, um trotz ihrer kleinen Körpergröße zu einem ordentlichen Beutetier zu kommen.
Vielleicht ist es in Ordnung, dieses Zu-Tode-Hetzen, diesen Bis-zur-völligen-Erschöpfung-jagen-und-dann-umzingeln nicht gut ertragen zu können.
Vielleicht darf mir der Blick der Antilope, ihre Suche nach einem Fluchtweg, ihre sichtbare Anspannung bei gleichzeitig nachlassender Kraft durch und durch gehen.
Vielleicht darf ich so irrational sein wie es nur Menschen können.

Ich habe mich mit mir selber darauf geeinigt, dass ich mir alle Gefühle verzeihen darf, solange ich mir nicht wünsche, dass die Antilope nicht stirbt.

Es muss ja noch eine nächste Stufe für innere Erkenntnis übrigbleiben.
Vielleicht erklimme ich sie an einem anderen Abend.
An einem Wasserloch in Botswana oder ganz woanders.

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6 Kommentare

  1. der verstand ist aber doch auch bloß ein ziemlich unvollkommenes vehikel zum erfassen dieser welt. in der indischen religion des hinduismus, gibt es in den texten der upanishaden (übrigens oft und gerne von schopenhauer zitiert) den satz “tat twam asi” , was soviel bedeutet, wie “das bist du”. also, im grunde der verbindunggedanke mit all und allem. die neuere hirnforschung würde vielleicht von der wirkung der spiegelneuronen sprechen. man reagiert (zum teil auch völlig unbewußt) auf das, was mein gegenüber aussendet. wenn man es aber schlicht und trotzdem unüberschaubar halten will, könnte man es auch einfach nur mitleid nennen. moralische empörung ist ja nicht nur schlecht. und wie gesagt: der verstand hat seine tücken; das unlogische ist ja mit drin.
    wenn wir also ein hilfloses tier bedroht sehen, z.b. von einer meute schakale, ist das nichts anderes, als wenn man zeuge wird, wie ein alter gebrechlicher mensch von einer gang bedroht wird.
    unsere moralischen urteile sind zum glück auch dazu geeignet, helfend einzugreifen , wenn die vernunft mal wieder “ungeheuer gebiert”.

  2. Mich treffen da schon im Berliner Stadtbild die Szenen, wenn Krähen die eigenen Kumpanen „erledigen”, wenn es denen nicht mehr gut geht. Und ja, ich bin dann auch naiv und gutgläubig hoffend bis angeekelt. Andererseits … ich habe in meinem Leben mehrfach Entscheidungen treffen müssen zum Einschläfern eines Tieres. Der Tod ist also immer auch geben und nehmen. Alle hoffenden Gefühle sind letztendlich nur ein Ausdruck von Bewusstsein und Menschlichkeit.

  3. Du beschreibst den Widerspruch zwischen dem “Blick der Biologin” und dem “Blick eines Empathie für ein Mitgeschöpf empfindenden Menschen”. Aber darf dieser Widerspruch denn nicht existieren? Muß man ihn denn auflösen und zu einem gemeinsamen Nenner für beide diese sehr unterschiedlichen Blicke gelangen? Ich glaube nicht.

    Bitte gestatte mir, diesen Widerspruch mal in ein Extrem zu führen:

    Stell Dir vor, Du wärest Mutter (vielleicht bist Du’s ja mittlerweile – in einem früheren Blogbeitrag stand zumindest mal, daß Du es werden möchtest) und Deinem kranken Kind passiert etwas Schlimmes. Würdest Du Dir selbst hier denn auch wünschen, daß Du völlig ungeachtet der Trauer, die Du empfinden würdest, dann doch eigentlich uneingeschränkt den “Blick der Biologin” einnehmen könntest?

    Warum nicht zulassen, daß zwei verschiedene Ausgangs-“Mindsets” zu zwei (einigermaßen unvereinbaren) Anschauungen ein- und derselben Situation führen können?

    Ich persönlich empfinde das als etwas Wunderbares.

    http://goo.gl/bbyca

  4. Natürlich darf man so irrational sein, wie es die Menschen sind. Unsere Gattung ist nun mal von der Natur mit Emphatie ausgestattet, die dem Erhalt unserer Gattung hilft.

    Dass dabei Tiere auch manchmal von unserem Mitgefühl etwas abbekommen, ist verzeihlich.

  5. Dieser innere Widerstreit in dir existiert wegen folgender Fehlannahme: dass die Gefühlsstumpfheit gegenüber dem Leid anderer objektiv sei und die Ansichten über den Zweck des Sterbens und des Todes in der Natur Resultat einer realistischen Betrachtung der Natur wäre, während dein Gewissen und Mitgefühl das Ergebnis kultureller Einmischung sei. Es ist genau umgekehrt. Es gehört zur Natur des Menschen (und so einiger anderer Tiere), Mitgefühl zu empfinden (Spiegelneuronen!) und es ist ein Konstrukt pseudowissenschaftlicher Verdinglichung allen Seins, das die subjektive Wahrnehmung aller Lebewesen ausblendet und die lebendige Welt in die Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie presst und “objektiv” nennt. Wer fühlt, ist aber nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt, was spätestens seit Descartes, diesem Tierquäler, ignoriert wird, um sich beim Quälen, Töten und Ausbeuten anderer nicht vom Gewissen und Mitgefühl aufhalten zu lassen. Wohin das führt, sieht und erfährt man ja überall.

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